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Die Stunde der Zikaden

Die Stunde der Zikaden

Titel: Die Stunde der Zikaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Felicitas Mayall
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er wieder da?» Laura runzelte die Stirn.
    «Vielleicht war es auch ein anderer. Jedenfalls war sein Gesicht schwarz und seine Kleidung bunt. Außerdem wollte er offensichtlich nicht gesehen werden.»
    Laura nickte.
    «Wohin fahren wir also?»
    Langsam ging Guerrini zu ihr hinüber. Sie fragte nicht, mit wem er telefoniert hatte. Er liebte sie für den Raum, den sie ihm ließ. Als er vor ihr stand, umfasste sie seinen rechten Oberschenkel, ließ ihre Hand hinauf zu seiner Hüfte gleiten und sanft über sein Geschlecht.
    «Wir könnten auch im Bett bleiben und alle Türen abschließen, die Fensterläden zumachen», sagte er leise. «Dann würde ich dir das Gedicht von Petronius vorlesen, weil ich es mir vermutlich nicht merken kann.»
    Laura lachte. «Ich kann mir auch nur die ersten Zeilen von Gedichten merken. Lass uns lieber wegfahren, Angelo. Irgendwohin, wo wir allein sind. Nicht nach Rom. Und auch nicht lange, nur für einen Tag. Vielleicht sind dann die Astralleiber der Straßenhändler und die Geister angeschwemmter Leichen verschwunden.»
    Guerrini setzte sich neben sie und kämmte mit den Fingern ihr Haar, das sich in der feuchten Meeresluft kringelte.
    «Was soll ich dir zeigen, Laura? Die Höhlen von Sorano? Eine Etruskerstadt? Die wilden Rinder und Pferde der Maremma, den Strand der toten Bäume?»
    «Was ist der Strand der toten Bäume? Heißt der wirklich so?»
    «Nein, ich habe ihn so getauft. Es ist vielleicht die wildeste Gegend der Toskana, und du kennst ihn, Laura. Wir haben uns zum ersten Mal geliebt an diesem Strand, erinnerst du dich nicht mehr?»
    «Der Strand! Den hab ich nur im Dunkeln gesehen. Das Meer war schwarz mit silbernen Ornamenten, der Strand ganz schmal und mit merkwürdig gebogenen Bäumen, die im Mondlicht glänzten. Helle Dünen, weiße Lilien, kaltes Wasser auf der Haut. Wir haben geschrien, als wir ins Wasser getaucht sind. Und du hast nach Salz geschmeckt.»
    Sie musterten sich gegenseitig, suchten ihre Gesichter ab. Spurensicherung.
    «Das hast du sehr genau beschrieben», murmelte Guerrini endlich.
    «Natürlich. Solche Erinnerungen halten einen doch am Leben, oder?»
    Guerrini strich die Locken aus Lauras Stirn, glättete mit seinem Zeigefinger die steile Falte zwischen ihren Augenbrauen und zeichnete ihre Augenbrauen nach, die Wangenknochen und den Schwung ihrer Oberlippe. Dann beugte er sich vor und küsste sie. Laura spürte, dass es anders war als damals am Strand, aber nicht weniger aufregend, noch immer geheimnisvoll, und sie flehte innerlich, dass es so bleiben möge.
    «Lass uns fahren!», sagte sie. «Zum Strand der toten Bäume.»
     
    Ernesto Orecchio hatte die Anweisung bekommen, jeden Wagen anzuhalten, der ins Resort wollte, und jeden, der rausfuhr. Sozusagen als Ersatz für den Schlagbaum, der erst in einer Woche repariert werden würde. Das hatte ihm Gianni gesagt, der in der letzten Nacht Dienst geschoben hatte. Eine ruhige Nacht sei es gewesen. Nur der Italiener, der Dottore mit seiner Freundin, der aus dem Haus von Conte Colalto, sei um halb elf reingefahren. Orecchio ging um das Wärterhäuschen und warf einen Blick auf seinen Fiat. Er hätte den Wagen gern vor dem Haus geparkt, um ihn ständig im Auge behalten zu können. Aber das war verboten. Die Angestellten des Resorts mussten ihre Autos und Vespas auf dem Platz hinter dem Haus abstellen. So war es festgelegt. Das elegante Rondell der Einfahrt durfte nicht durch abgestellte Fahrzeuge verschandelt werden.
    Na ja, im Augenblick war von der Eleganz nichts mehr übrig. Auf der einen Seite lag der Baumstamm, auf der andern ein Berg von Ästen, der immer höher wurde, weil all die abgebrochenen Äste und umgefallenen Bäume aus dem Resort hier abgeladen wurden. Die Verwaltung von Il Bosco hatte ein paar Leute zusätzlich eingestellt, um nach dem Sturm wieder Ordnung zu schaffen.
    Der Fiat war in Ordnung, der Karton unter der alten Decke verborgen. Vielleicht würde Fabrizio am Mittag vorbeikommen. Orecchio könnte ihn bitten, für eine Stunde den Dienst zu übernehmen, weil er dringend zum Zahnarzt musste oder so. In einer Stunde konnte er es schaffen, den Karton zu den anderen Paketen zu legen. Er würde es schaffen, musste es schaffen!
    Ein Wagen näherte sich aus dem Resort. Ein Lancia, dunkelblau. Orecchio ging schnell um das Wärterhäuschen herum und streckte den Arm aus, winkte mit gespreizten Fingern. Der Wagen hielt an. Eine Frau mit hellbraunen halblangen Locken saß auf dem Beifahrersitz.

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