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Die Stunde der Zikaden

Die Stunde der Zikaden

Titel: Die Stunde der Zikaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Felicitas Mayall
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in seinem Sitz zurück.
    «Ganz einfach: Weil die alten Männer nicht wissen, was sie sonst machen sollen. Deshalb diskutieren sie die Dinge des Lebens. Die Ungerechtigkeit, die verrückte neue Zeit, die schlimme Politik, die immerwährende Wirtschaftskrise, das Elend des Alters, die vergangenen Zeiten, die Krankheiten, die Todesfälle …»
    «Und die alten Frauen?»
    Guerrini küsste Laura auf die Wange.
    «Das weißt du doch genau, amore! Die Frauen kaufen ein, kochen, waschen, putzen das Haus, kümmern sich um die Enkel, die Kranken und telefonieren mit ihren Freundinnen, um über ihre alten Männer zu schimpfen.»
    «Bene. Das war eine klare Antwort.»
    «Es ist eine klare Sache!»
    «Findest du sie gut?»
    «Sie ist, wie sie ist.»
    «Warum bist du so verdammt abgeklärt?»
    Wieder lachte er.
    «Weil ich Urlaub habe und weil ich diese alten Männer und ihre Frauen kenne! Ich meine, nicht genau diese hier, aber ihre Art zu leben … im Allgemeinen … es liegt eine gewisse Ordnung darin, und das wissen sie genau, deshalb geht es ihnen damit nicht schlecht.»
    Er stieg aus, überquerte die Straße und grüßte die Alten. Sie grüßten beinahe überschwänglich zurück und zogen ihn ins Gespräch. Da stand er zwischen ihnen, ein großer schlanker Mann, mit dunklem Haar, das ein paar silberne Fäden zeigte. Noch jung, gerade an der Grenze zur endgültigen Reife, und Laura wusste, dass er spielerisch übte, dass er diese Alten mochte.
    Sie blieb noch im Wagen sitzen, ausgeschlossen von dieser Szene, aber das machte nichts. Das geschah überall – wenn Frauen zusammensaßen, wenn Männer miteinander redeten, wenn Kinder spielten, wenn Jugendliche sich trafen. Diese unausgesprochene Ordnung funktionierte in allen Gesellschaften. Und sie dachte darüber nach, wie verletzt sie sich als junges Mädchen gefühlt hatte, wenn sie diese Barriere zwischen einer Gruppe von Jungs und sich selbst spürte. Wie sie sich innerlich dagegen aufgebäumt hatte, den ewig kichernden Mädchen zugeteilt zu werden. Später wurde man als zu jung, zu weiblich und noch später irgendwann vermutlich als zu alt ausgeschlossen. Einen Grund würde es immer geben. Laura kannte ein paar Menschen, die sich nicht ausschließen ließen. Sie drängten sich einfach hinein. Ohne Rücksicht auf die Ordnung. Aber sie wurden nicht gemocht. Wurden als nervige Eindringlinge betrachtet. Neben der Spur. Peinlich. Lästig. Anstrengend.
    Zögernd öffnete Laura die Wagentür und stieg langsam aus, sah das sabbernde bronzene Wildschwein an. Offensichtlich hatte man den Brunnen abgeschaltet, er tröpfelte nur noch. Im Wasserbecken schwamm aufgeweichtes Zeitungspapier.
    Als Laura vor der Bar ankam, legte Guerrini einen Arm um ihre Schultern. Die Alten zwinkerten verschmitzt und grüßten freundlich.
    Drinnen fiel Laura ein seltsames Ölgemälde auf, das einen Hasen in Menschenkleidung zeigte. Der Hase lief auf zwei Beinen eine einsame Straße entlang und warf einen langen Schatten. Aber der Milchkaffee war gut, die Brioche frisch, und in einer Ecke der Bar beugten sich drei ältere Frauen über einen Kinderwagen. Lauras und Guerrinis Blicke trafen sich, und er zuckte lächelnd die Achseln.

 
    ORECCHIO SCHAUTE KAUM nach vorn, starrte ständig in den Rückspiegel. Der Motor des kleinen Fiat kreischte angestrengt. Schneller! Warum fuhr er bloß ein so kleines Auto? Rot und klein. Aber er hatte ja nicht gewusst, dass er irgendwann auf der Flucht sein würde. Niemand rechnete damit, dass er fliehen musste, oder kaufte sein Auto im Hinblick auf eine mögliche Flucht. Die Anderen vielleicht oder die von der Mafia. Er raste auf der Straße nach Follonica dahin, auf der Suche nach dem Feldweg, den er gestern eingeschlagen hatte. Er war nicht mehr sicher, welcher es gewesen war, fuhr an einem vorbei, kehrte wieder um, wartete unter einem dichten Feigenbaum, bis die Straße für ein paar Momente völlig leer war, und bog endlich von der Hauptstraße ab. Doch, genau dieser Weg war es gewesen. Er erinnerte sich an den alten Ziegenstall auf der rechten Seite, an den Graben auf der linken und die alten Edelkastanien.
    Im Schutz des Waldes blieb er stehen und untersuchte den Weg. Seit gestern hatte es nicht mehr geregnet, deshalb konnte er die Reifenspuren seines Fiats genau erkennen. Kein anderes Fahrzeug war seit gestern hier entlanggefahren. Das beruhigte Orecchio ein wenig. Er zündete sich die vorletzte Zigarette an, die er im Handschuhfach aufbewahrte, und zwang sich

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