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Die Stunde der Zikaden

Die Stunde der Zikaden

Titel: Die Stunde der Zikaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Felicitas Mayall
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Bewusstsein.
    Der Karton war nicht da!
    Nicht mehr da!
    Aber vor ein paar Minuten war er noch da gewesen! Außer dem blauen Lancia hatte kein Wagen das Resort verlassen oder war hineingefahren. Der Dieb musste zu Fuß gekommen sein. Orecchio rannte los, das Gewehr in einer Hand, rannte von einem Busch zum andern, in die schmalen Einfahrten der Gärten hinein, blieb stehen, lauschte, rannte wieder, drehte sich um sich selbst. Er hatte das Gefühl, in Stücke zu zerfallen, hörte nichts, sah nichts. Nur eine Elster, beinahe hätte er auf sie geschossen. Aus Verzweiflung.
    Es hatte keinen Sinn. Er rannte zu seinem Wagen zurück, setzte sich hinters Steuer und legte das Gewehr auf den Beifahrersitz. Sie hatten sein Startkapital gestohlen, die Anderen, hatten ihn durchschaut, die ganze Zeit beobachtet. Der Dottore und seine Freundin! Das war eine Warnung gewesen, und gleichzeitig hatten sie ihn reingelegt, abgelenkt, beraubt! Orecchio stöhnte und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er hatte nie eine Chance gehabt. Nicht gegen die. Jetzt wussten sie, dass man sich auf ihn nicht hundertprozentig verlassen konnte. Er war zum Verlieren geboren. Immer schon. Einen Augenblick lang legte Orecchio seine Stirn auf das Lenkrad und schloss die Augen. Die Beine seiner Tante Amalia, er konnte sie ganz deutlich vor sich sehen. Da raffte er sich auf und fuhr los. Er würde nicht aufgeben! Diesmal nicht!
     
    Guerrini fand es erstaunlich, dass er jedes Mal die richtige Ausfahrt aus den vielen neuen Kreiseln rund um Grosseto gefunden hatte. Und dann die Via Aurelia, diese Horrorstraße, die vermutlich bei den Römern auch nicht angenehmer gewesen war. Nur nicht so laut, schnell und voll.
    «Um zur Bucht der toten Bäume zu kommen, muss man zuerst die Straße des Grauens überwinden», murmelte er. «Wie in den alten Mythen. Erst nach der Prüfung folgt Befreiung und Erleuchtung!»
    «Und wie in der Liebe!», fügte Laura hinzu.
    «Salve.» Er lächelte grimmig und hob abwesend den Arm zum römischen Gruß.
    «Lass das!»
    «Was?»
    «Den römischen Gruß. Der erinnert an unangenehme Zeiten. Bei uns könntest du glatt dafür verhaftet werden!»
    «Da siehst du, was diese verdammten Faschisten den armen Römern angetan haben. Ich hab das nur gemacht, weil wir auf einer alten Römerstraße fahren, weil ich Salve gesagt habe!»
    «Schon gut. Ich hatte nur in letzter Zeit zu viel mit Neonazis zu tun.»
    Eine ununterbrochene Schlange von Lastwagen auf dem Weg nach Rom. Schwarze Dieselwolken und dahinter in sanften Herbstfarben, beinahe durchsichtig und unwirklich, die Monti dell’Uccellina, davor eine dunstige Ebene wie der Hintergrund eines Renaissancegemäldes.
    Sie hatten über die kurze Begegnung mit Ernesto Orecchio gesprochen – es ging gar nicht anders. Selbst Angelo hatte das zugegeben. Und sie waren sogar einer Meinung gewesen, hatten beide den Eindruck gehabt, dass Orecchio Angst hatte und mindestens zwei Sätze zu viel über den weißen Lieferwagen sagte, obwohl Guerrini keine Fragen stellte. Dabei hatten sie es belassen und sich stattdessen darüber gewundert, dass der zehn Kilometer lange Pinienwald entlang der Küste noch nicht abgebrannt war. Da doch in Italien nahezu alle Wälder an landschaftlich besonders schönen Stränden in Flammen aufgingen.
    Ich liebe Schirmpinien, dachte Laura. Für mich sind es die vollkommensten Nadelbäume, mit ihren hohen Stämmen, der schuppigen rötlichen Rinde und diesem großzügig schützenden Dach aus grünen Nadeln, das von unten wie ein Spinnennetz aussieht. Unter einer Schirmpinie auf dem Rücken zu liegen, ist für mich eine Vorstellung von Glück. Das ist auch etwas, das ich in diesem Urlaub machen werde: mich unter eine Pinie legen, in ihre Krone schauen und innerlich wegfliegen. Allein.
    Sie wollte es gerade laut sagen, als Guerrini rechts abbog und in das Dorf Rispescia einfuhr, das nur ein paar Meter neben der Via Aurelia lag.
    «Wir sollten ein paar Panini, Schinken, Käse und Wasser mitnehmen. Da draußen gibt es absolut nichts!»
    Sie hielten an einem langgezogenen Platz, genau vor einem bronzenen Keiler, aus dessen Maul der Dorfbrunnen gespeist wurde. Gegenüber dem Wildschwein, auf der anderen Straßenseite, lag eine Bar. Ein paar alte Männer standen davor und schauten zu ihnen herüber.
    «Warum stehen eigentlich immer alte Männer vor den Bars herum und keine alten Frauen?» Laura meinte ihre Frage ganz ernst. Guerrini schaute zu den Alten hinüber und lehnte sich dann

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