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Die Stunde der Zikaden

Die Stunde der Zikaden

Titel: Die Stunde der Zikaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Felicitas Mayall
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dazu, langsam zu rauchen. Ganz langsam. Es fiel ihm schwer. Er lief schnell auf und ab, umrundete den Fiat, am liebsten hätte er geschrien, um diese innere Anspannung loszuwerden.
    Das hier war seine Chance. Er würde weggehen und ganz neu anfangen. Ganz weit weg. Und in genau diesem Augenblick fiel ihm sein alter Bekannter in Francoforte ein, in Deutschland. Wieso hatte er nie an ihn gedacht? Niemand würde ihn, Orecchio, in Francoforte suchen! Wie sollten die Anderen draufkommen, dass ausgerechnet er nach Deutschland gehen würde? Nie würden sie draufkommen! Nie!
    Vielleicht war in den anderen Paketen noch mehr von dem weißen Pulver, das er im Stierkopf gefunden hatte. In Francoforte würde er keine Schwierigkeiten haben, das Zeug loszuwerden. Das hatte er in Krimis im Fernsehen gesehen. Francoforte war ein Zentrum des Drogenhandels.
    Hastig ließ Orecchio die Zigarette fallen, die seine Finger verbrannte, und trat sie aus. Nichts war zu hören oder zu sehen. Er war allein. Und er hatte einen Plan! Als Orecchio wieder in seinen Wagen stieg, fuhr er gemächlich weiter, fast ein bisschen zuversichtlich.
     
    Riesige schwarze Stiere auf überschwemmten Weideflächen, wie unbewegliche Skulpturen, dazwischen Schwärme von weißen Kuhreihern.
    «Argentinien?» Laura stand am Zaun und schaute zu den langhornigen Ungetümen hinüber. «Die Pampas?»
    Guerrini trat zu ihr und stützte beide Arme auf den hohen Zaun. «Maremma», antwortete er. « Gli ultimi butteri , die letzten italienischen Cowboys, die ältesten Rinder Italiens, die besten Pferde. Eine dramatische Geschichte und eine dramatische Landschaft. Einer der magischen Orte meiner Jugend.»
    «Hast du mich deshalb damals hierher gebracht?»
    «Möglich.» Er sah sie nicht an, sondern legte sein Kinn auf einen Unterarm. Einer der mächtigen Stiere wandte sehr langsam seinen Kopf und schaute zu ihnen herüber, vielleicht auch über sie hinweg.
    «Warum haben die so riesige Hörner?»
    «Angeblich stammen sie von ungarischen Steppenrindern ab oder von asiatischen. Jedenfalls kamen sie wohl mit den Barbaren, die zwischen dem sechsten und dem achten Jahrhundert hier eingefallen sind. Die Stiere sind beinahe schwarz, die Kühe weiß. Die Kälber sind hellbraun wie kleine Antilopen mit riesigen Augen und Ohren. Seltsam, nicht wahr?»
    «Woher weißt du das alles?»
    Guerrini schaute noch immer starr geradeaus auf die Gruppe der dunklen Stiere.
    «Das weiß ich irgendwie schon immer, vermutlich habe ich es schon als kleiner Junge gehört. Meine Mutter hat mir die Geschichten der Maremma erzählt. Ich glaube, dass ihre Vorfahren aus dieser Gegend kamen. Deshalb hat es sie immer wieder hierher gezogen.»
    Der Stier setzte sich langsam in Bewegung, trottete zum Zaun und rieb seine rechte Flanke an einem Pfahl.
    «Wann ist deine Mutter gestorben, Angelo?»
    «Vor vier Jahren.»
    «Hast du sie gemocht?»
    Er sah zu ihr herüber.
    «Warum fragst du?»
    «Weil es mich interessiert und weil nicht alle Menschen ihre Mütter mögen.»
    Er breitete beide Arme aus, legte den Kopf in den Nacken und wies auf einen Schwarm weißer Reiher, der über sie hinwegflog.
    «Ich mochte sie. Sie war keine einfache Mutter. Aber auch keine schlechte, und sie hat mir viele Dinge gezeigt, an die andere Mütter nicht mal im Traum denken würden.»
    «Die Maremma zum Beispiel.»
    «Zum Beispiel.»
    Laura fragte nicht weiter. Sie dachte an das Foto von Angelos Mutter, das in seiner Wohnung hing. Ein kleines Foto, schwarzweiß, das herbe, schöne Gesicht einer alten Frau, beinahe klassisch, mit streng zurückgekämmten Haaren, die im Nacken zu einem Knoten geschlungen waren. Keine der aufgestylten Damen der bürgerlichen Gesellschaft Sienas, zu der sie eigentlich gehörte.
    «Ich glaube, sie wäre lieber Bäuerin gewesen», sagte Angelo und wandte sich zum Wagen. Brüllendes Donnern raste in diesem Moment über die Ebene auf sie zu, wie die Druckwelle einer gewaltigen Explosion. Erschrocken hielt sich Laura die Ohren zu. Da verebbte das Getöse so schnell, wie es gekommen war.
    «Was zum Teufel war das? Die apokalyptischen Reiter? Oder ist Grosseto in die Luft geflogen?»
    «Ach, das war nur ein Jagdbomber. Unsere Luftwaffe hat einen Flugplatz in der Nähe von Grosseto. Als Kinder haben wir uns in den Sand geworfen, wenn die am Strand über uns weggeflogen sind. Heute dürfen sie nicht mehr so niedrig fliegen.»
    «Ein echtes Naturparadies, wie?»
    «Sag nicht, dass das bei euch anders ist.»
    «Sag

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