Die Stunde der Zikaden
ich ja nicht.»
«Bene.»
Sie fuhren weiter, schweigend, durch eine atemberaubende Allee alter Schirmpinien. Rechts von der schmalen, holperigen Straße erstreckten sich die weiten baumlosen Weiden bis zu den Dämmen des Ombrone. Auf der linken Seite wurden sie von den Monti dell’Uccellina begrenzt, und die Weiden erschienen plötzlich lebendiger, durchsetzt von Felsen, Schilfbüscheln und Macchia, dann gingen sie allmählich in Pinienwälder über. Zwei Rehe ästen zwischen weißen Rindern, warfen kurz ihre Köpfe auf, als Guerrini langsamer fuhr.
«Damals war es dunkel», sagte Laura leise. «Ich hab all das gar nicht gesehen.»
«Außerdem hast du auf der Hinfahrt geschlafen.»
«Gehen wir zur Bucht, die du mir damals unbedingt zeigen wolltest?»
«Natürlich.»
«Hast du damals gewusst, dass wir Sex miteinander haben würden?»
«Nein.»
«Warum bist du dann mit mir in diese einsame Bucht gegangen?»
«Weil ich dich mochte und weil es ein wunderbarer Platz ist. Außerdem wollte ich schwimmen, und in dieser Bucht sind die Strömungen nicht so stark.»
«Ah.» Laura betrachtete kurz sein Profil, ließ dann den Blick in den lichten Pinienwald wandern.
«Warum ist der Waldboden eigentlich überall aufgewühlt?»
«Weil es hier viele Wildschweine gibt. Das ist ein Schutzgebiet für Tiere. Es gibt Füchse, Rehe, Damwild, Wildschweine, Stachelschweine, Wiesel, Dachse und jede Menge Vögel. Man versucht hier so etwas wie einen Urwald entstehen zu lassen, einen Garten Eden. Noch mehr Fragen?»
«Hast du gehofft, dass wir Sex haben würden?»
«Was für ein schrecklicher amerikanischer Ausdruck, Laura.»
«Aber er drückt klar aus, worum es geht. Also: Hast du geplant, mit mir zu schlafen? Wenn dir das lieber ist, obwohl es mit schlafen absolut nichts zu tun hat!»
«Nein, ich habe es nicht geplant, ich habe es einfach geschehen lassen. Planungen dieser Art gehen meistens schief. Hast du es geplant?»
Laura schüttelte heftig den Kopf.
«Gehofft?»
Sie zuckte die Achseln.
«Geschehen lassen und hinterher gehofft, dass es keine Dummheit war. Aber es war verdammt gut, trotz des Sandes!»
Guerrini lachte auf. Inzwischen hatten sie das Ende der Stichstraße erreicht, und Guerrini fuhr auf den Parkplatz. Die Straße war mit rot-weißen Plastikbändern abgesperrt, denn sie brach unvermutet ab, direkt ins Meer, das an diesem Tag harmlos und ein wenig matt an den Strand schwappte.
Sie packten den Proviant und die Wasserflasche in einen Rucksack und machten sich auf den Weg zu Guerrinis Bucht.
Das Meer hatte sich so viel vom Strand genommen, dass sie eine Weile durch den Wald und die Dünen laufen mussten. Es duftete nach Pilzen, Moos und Salz. Sie folgten den Klauenabdrücken der Wildschweine und den zarten Pfoten der Füchse. Später konnten sie an den Strand zurückkehren und waren fasziniert von den bizarren toten Bäumen, deren rindenlose weiße Stämme Knochen ähnelten und so glatt waren wie Haut. Sie stießen auf Hütten und Zelte aus Ästen und Stämmen, die wie verlassene Siedlungen von Ureinwohnern wirkten und doch nur die Hinterlassenschaften der Sommergäste waren. Besonderer Sommergäste, die ihren Urinstinkt wiederentdeckt hatten und die Lust am Bauen mit dem, was am Strand angeschwemmt wurde. Sommergäste, die es auf sich nahmen, eine Stunde zu wandern, ehe sie sich niederließen.
Laura entdeckte Türme auf Felsen und Hügeln, und Guerrini erklärte ihr, dass es Wachtürme waren, die von Senesern, den Medici und sogar Spaniern zwischen dem vierzehnten und siebzehnten Jahrhundert gegen die Sarazenen errichtet worden waren. Auch die Ruine eines Klosters, das immerhin beinahe sechshundert Jahre in dieser wilden Gegend überlebt hatte und erst im sechzehnten Jahrhundert aufgegeben worden war, musste irgendwo in der Nähe sein.
«Es war kein gutes Land. Die gesamte Tiefebene der Maremma war bei den Etruskern eine Lagune und später ein Sumpfgebiet. Die Menschen hier waren arm, starben an Malaria, Typhus, Cholera und Tuberkulose. Und sie wurden mit der Zeit so zäh wie die Maremmapferde. Die Schirmpinien gab es damals noch nicht, die wurden erst vor hundertfünfzig Jahren gepflanzt … gegen die Mücken, die Malaria übertrugen. Von einem Österreicher, Leopoldo Secondo, dem letzten fremden Herrscher der Toskana. Das hier ist also eine von Menschen geschaffene Wildnis.»
Laura stieg auf eine Düne und schaute über die Berge, das Meer, den Wald und die Macchia, die roten Felsen, die weiter im
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