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Die Stunde der Zikaden

Die Stunde der Zikaden

Titel: Die Stunde der Zikaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Felicitas Mayall
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waren, mit ihren Erfahrungen, Empfindungen, Verletzlichkeiten, Vorlieben, dem ureigenen Weltbild – jeder und jede ein eigenes Universum, wie Kafka es genannt hatte.
    Laura öffnete die Augen und sah sich nach Angelo um. Er saß ein paar Meter von ihr entfernt, mit dem Rücken an einen Felsen gelehnt, und zeichnete mit einem Stock etwas in den Sand. Sie dehnte ihre Arme und Beine, rappelte sich auf und ging zu ihm hinüber. Neugierig betrachtete sie die Zeichen im Sand.
    «Was ist das?»
    «Das hier ist deine angeschwemmte Leiche. Hier steht Orecchio, samt weißem Lieferwegen, und hier oben schwebt Enrico di Colalto. Der Kreis außen herum soll die Wege des afrikanischen Händlers andeuten.»
    «Santa Caterina!»
    Guerrini hob erstaunt die Augen. «Seit wann rufst du meine Heilige an, eh?»
    «Seit du dir selbst untreu wirst! Ich dachte, wir wären im Urlaub. Ich habe diese Dinge aus meinem Kopf verbannt!»
    «Bei der Fahrt hierher hattest du sie aber noch in deinem Kopf.»
    «Nur für fünf Minuten, dann hab ich sie vergessen.»
    «Du hast sie nicht vergessen, Laura!»
    «Bene, aber ich denke nicht daran! Ich denke an dieses Meer, den Himmel, die toten Bäume mit der glatten weißen Haut und sogar an dich.»
    Guerrini antwortete nicht, sah sie nur forschend an. Gerade als Laura zu einer weiteren Begründung ihres mangelnden Interesses ansetzen wollte, wurde sie von einer Bewegung rechts hinter Guerrini abgelenkt. Sie machte einen halben Schritt zur Seite, einen unauffälligen Schritt, eher eine Gewichtsverlagerung, um genauer sehen zu können und entdeckte einen Fuchs. Geduckt kauerte er im Sand, höchstens zwei Meter von Guerrini entfernt, und starrte ebenso erschrocken auf Laura wie sie auf ihn.
    «Beweg dich nicht!» Laura flüsterte. «Hinter dir ist ein Fuchs.»
    Guerrini wandte langsam den Kopf, konnte aber nichts sehen.
    «Was macht er? Warum soll ich mich nicht bewegen?»
    «Er könnte die Tollwut haben. Füchse sind scheu! Wenn sie keine Angst vor Menschen zeigen, dann haben sie immer die Tollwut!»
    Guerrini blieb bewegungslos sitzen.
    «Was macht er jetzt?»
    «Nichts. Er starrt mich an.»
    «Und jetzt?»
    «Er kommt näher.»
    «Hat er Schaum vor dem Maul?»
    «Nein. Ich werde jetzt einen Stock holen!»
    Vorsichtig bewegte Laura sich rückwärts zu einem Haufen angeschwemmter Äste, zog einen kräftigen Stock heraus und ließ dabei den Fuchs nicht aus den Augen. Er war hübsch. Mit schwarzen Pfoten, einer weißen Brust, rotem Fell und hellen Augen, die durchdringend auf Laura gerichtet waren. Inzwischen hatte er sich Guerrini bis auf einen halben Meter genähert.
    In Zeitlupentempo hob Laura den Stock und machte einen Schritt nach vorn. Der Fuchs duckte sich tiefer in den Sand und wich ein paar Zentimeter zurück.
    «Warte einen Augenblick, erschlag ihn noch nicht!», sagte Angelo leise und zog den Rucksack zu sich heran, kramte den Rest der Salami heraus, drehte sich zum Fuchs und warf ihm ein Stückchen zu. Der Fuchs schnappte danach wie ein Hund, leckte seine Schnauze und wagte sich noch ein bisschen näher. Diesmal bekam er eine Käserinde und danach ein Stück Brot.
    «Keine Tollwut», grinste Guerrini, «nur ein Zivilisationsschaden und eventuell der Beginn einer kriminellen Karriere.»
    Er sprang auf, wedelte mit beiden Armen und bellte heiser. Blitzschnell huschte der Fuchs in den Schutz der Macchia zurück. Guerrini aber schlenderte zu Laura hinüber und nahm ihr den Stock aus der Hand.
    «Die Füchse hier benehmen sich anders als die Füchse in Deutschland. Im Sommer belagern sie die Straße im Naturpark. Kaum hält ein Wagen an, sind sie da und warten auf Salami. Du kannst es als Gleichnis betrachten – Menschen und Tiere verhalten sich ähnlich. Sie sammeln sich da, wo es was zu fressen gibt. Das war schon immer so.»
    «Seit wann bist du Zyniker, Angelo?»
    Er lachte.
    «Kein Zyniker, nur Beobachter. Schau, er ist immer noch da, der kleine Schlaumeier. Er beobachtet uns und überlegt wahrscheinlich, wie gut seine Chancen stehen, an den Rucksack ranzukommen, der im Sand liegt.»
    Tatsächlich lag der Fuchs kaum sichtbar unter einem Heidekrautbusch zwischen ein paar Büscheln Strandhafer.
    «Du hast es die ganze Zeit gewusst, nicht wahr?»
    «Natürlich.»
    «Und warum hast du dann nichts gesagt?»
    «Ich wollte sehen, ob du dich dem Untier todesmutig entgegenstellst, um mich zu retten.»
    «Mein Todesmut hatte mindestens so viel mit meiner eigenen Rettung zu tun wie mit deiner!»
    «Ah, das

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