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Die Stunde der Zikaden

Die Stunde der Zikaden

Titel: Die Stunde der Zikaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Felicitas Mayall
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Süden steil zum Wasser abfielen.
    «Manchmal», rief sie Guerrini zu, der am Strand geblieben war, «manchmal machen Menschen auch etwas erstaunlich Wunderbares!»
     
    Die Kartons mit dem geheimnisvollen Inhalt lagen noch immer so im Kellergewölbe des verfallenen Hauses, wie Ernesto Orecchio sie hineingelegt hatte. Ehe er damit begann, die Pakete in seinen Fiat zu laden, rauchte er seine letzte MS und beschloss, neue zu kaufen, obwohl er das Rauchen eigentlich aufgeben wollte und es schon fast geschafft hatte. Aber das war keine günstige Zeit, später vielleicht, wenn das Leben wieder in ruhigeren Bahnen verlaufen würde. Aber vielleicht würde es in der Zukunft keine ruhigeren Bahnen mehr geben, und auch das wäre ihm recht, denn er hatte genügend ruhige Bahnen hinter sich, immer im Gefolge seiner Mutter. Interessiert beobachtete er, wie die Spitze der Zigarette bei jedem Zug aufleuchtete, wie sie kürzer wurde und er endlich die Hitze der Glut zwischen seinen Fingern spüren konnte. Er betrachtete den Stummel, dessen Filter sich braun verfärbt hatte, warf ihn plötzlich angeekelt weg und trampelte mit beiden Füßen darauf herum. Ihm war ein bisschen schwindlig, weil er nur noch selten rauchte. Aber es war kein unangenehmer Schwindel, nur so ein leichtes Schweben.
    Er wandte sich um und begann die Kartons in seinen Fiat zu schleppen. Einen nach dem anderen. Beinahe hatte er es schon geschafft, da beschlich ihn unvermutet kaltes Grauen. Dasselbe Grauen, das er in der vergangenen Nacht gespürt hatte, als er sicher gewesen war, dass die Anderen bereits vor seiner Tür standen, dass sie ihn beobachteten, einkreisten, alles wussten. Orecchio starrte in den Wald hinein, doch er sah nichts, hörte nur das Fallen der Esskastanien. Er schrie, brüllte, dass sie herauskommen sollten, dass er genug hätte von ihrer Feigheit. Dass sie sich hundertprozentig auf ihn verlassen könnten! Hundertprozentig!
    Weil er sicher war, dass sie nicht da waren, dass dieses Grauen allein sein eigenes, inneres war, verfluchte er sie im Namen aller Heiligen und der Madonna. Danach fühlte er sich erschöpft. Er bekreuzigte sich und ging zum Kellerloch, um den letzten Karton herauszuziehen, musste sich niederknien und weit vorbeugen, um den Karton zu erreichen. Gerade als er ihn mit seinen Händen zu fassen bekam und zu sich heranzog, fühlte er einen Druck im Nacken. Einen sehr begrenzten Druck, kalt, metallen. Orecchio erstarrte, sein ganzer Körper wurde kalt und metallen. Er dachte nichts, selbst sein Gehirn war zu einem kalten metallenen Klumpen geworden.
    Nur einmal dachte er, für einen winzigen Moment, dass es vielleicht ein Ast sein könnte. Ohne sich dessen bewusst zu sein, hob er die Hände und zog den Kopf ein.
     
    Es war schon mitten am Nachmittag, als Laura und Guerrini in der Bucht ihrer ersten Umarmung Panini, Schinken, Salami und Käse teilten. Die Sonne stand ziemlich tief, doch sie wärmte und ließ das Rot der Felsen aufleuchten. Kein Mensch war ihnen begegnet, nur die Spuren der Wildschweine und Füchse hatten sie bis hierher begleitet. Die Inseln Giglio und Montecristo schwammen in einem goldenen Meer. Am Horizont ballten sich Wolkenberge, zu weit entfernt, um bedrohlich zu wirken.
    Laura kreuzte ihre Beine, legte die Hände auf ihre Knie und schloss die Augen. Sie versuchte die Stille zu erfassen, das sanfte Plätschern der Brandung und ihre Erinnerung an dieses wilde Erwachen von Lebendigkeit in jener Nacht vor beinahe zwei Jahren. Einer Lebendigkeit, die sie jahrelang in sich versteckt hatte, weil es keinen Raum dafür gegeben hatte. Oder weil sie meinte, dass es keinen Raum geben konnte, neben ihren Kindern und der Arbeit. Jetzt, in diesem Augenblick, im kühlen Sand und neben Guerrini, wusste sie, dass es auch Angst vor Nähe und Lebendigkeit gewesen war. Die manchmal etwas heftige Kriminalhauptkommissarin Laura Gottberg fürchtete sich vor Nähe, weil sie genau wusste, dass man nur von nahen Menschen wirklich verletzt werden konnte und dass Lebendigkeit einen Verlust an Kontrolle bedeutete.
    Sie hatte Guerrini lange so fern wie möglich gehalten. Als ferner Liebhaber war er erträglich gewesen. Rational betrachtet. Aber sie hatte ihn viel zu sehr geliebt, damals schon.
    Trotzdem waren sie einander fremd und in verschiedenen Kulturen aufgewachsen, obwohl Lauras Mutter aus Florenz stammte. Laura empfand diese Fremdheit als sehr ehrlich, deutlicher als in anderen Beziehungen, da sich doch alle Menschen fremd

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