Die Stunde der Zikaden
verbandelt ist.»
«Könnte?»
«Die Ermittlungen wurden eingestellt.»
«Weshalb?»
«Weil das hierzulande häufig so ist.»
«Dann würde dieser Ruben auch ins Bild passen. Er vertreibt Kunst.»
«Ach, woher weißt du denn das?»
«Weil ich ebenfalls meine Leute habe, die für mich recherchieren.»
«Warum hast du mir das nicht erzählt?»
«Weil ich im Urlaub bin.»
«Es klingt aber nicht nach Urlaub, wenn du Baumann oder sonst wen anrufst.»
«Es hat aber nur fünf Minuten gedauert.»
«So kommen wir nicht weiter, Laura.»
«Wollen wir denn weiterkommen?»
«Ich weiß es nicht.»
«Es kommt darauf an, ob du dich nur an Colalto rächen willst oder ob du glaubst, dass er wirklich ein Mafioso ist.»
«Auch das weiß ich nicht.»
Laura breitete resigniert die Arme aus und hielt das Büchlein von Petronius hoch.
«In diesem Fall sollten wir so bald wie möglich ein Bad in den heißen Schwefelquellen nehmen, in Saturnia übernachten, und ich lese dir Das Gastmahl bei Trimalchio vor. Vielleicht wird dir dann klar, was du willst.»
Guerrini faltete die Zeitung zusammen und griff nach seinem Laptop. Die undurchsichtige Verbindung seines Vaters zu Colalto verschwieg er, genauso die Steuerhinterziehung des alten Guerrini.
Zikaden, dachte er plötzlich. Sie sind wie die unsichtbaren Zikaden, die ich als Junge gesucht habe. Dabei kann ich sie sehen und hören. Aber ich kann ihre Existenz nicht beweisen.
Als er bemerkte, dass Laura ihn forschend von der Seite ansah, hakte er sie unter und küsste sie.
«Wir fahren besser nie nach Rom. Unser wunderbarer Ministerpräsident hat gesagt, dass man in Rom Vergewaltigungen nicht verhindern könne, weil es einfach zu viele schöne Frauen gebe! Solchen Gefahren kann ich dich nicht aussetzen, amore!»
«Madre mia! Machst du dich über mich lustig?»
«Nein, amore! Es ist die schlichte Wahrheit. Ich habe es gerade in der Zeitung gelesen. Angeblich steht unser Land Kopf. Vielleicht ist es allmählich an der Zeit auszuwandern.»
SCHAFE AUF FRISCHGEPFLÜGTER rotbrauner Erde, ein Schwarm tanzender Eintagsfliegen im Gegenlicht, uralte Olivenbäume hinter Mauern aus Feldsteinen, Bambushaine am Ufer eines dampfenden Unterweltflusses nahe Saturnia. Schwefelgeruch.
Mitten im Ort fanden sie eine kleine Pension, wurden von der Vermieterin in den zweiten Stock geführt, vorbei an Plastikspielzeug, Kinderwagen, Heiligenbildern, und standen endlich in einem riesigen Schlafzimmer. Das Bettgestell aus dunklem Holz war seinerseits gewaltig. Über dem Kopfende hing ein pastellfarbenes Mariengemälde, rechts und links an den Wänden der alte und der neue Papst, sowie ein Foto von Padre Pio. Auf dem Tisch prangte ein großer Strauß aus künstlichen Mohnblumen und Kornähren. Es roch leicht nach Mottenkugeln, und der ovale Spiegel des klobigen Frisiertisches hatte blinde Flecken. Aber das Bad war neu und weiß gekachelt. Die Pensionsbesitzer wohnten ein Stockwerk tiefer. Essensdüfte stiegen zu ihnen herauf, man hörte Kindergeschrei.
«Willst du wirklich hier schlafen?», fragte Guerrini leise und sah sich zweifelnd um.
Die Vermieterin stand abwartend in der Tür und strich ihre geblümte Kittelschürze zurecht. Sie mochte Anfang vierzig sein, war sehr blass und hatte große dunkle Augen mit langen Wimpern.
«Es ist das einzige Zimmer, das ich Ihnen anbieten kann. Die anderen renovieren wir gerade. Es ist Oktober, Signori!»
«Das erklärt alles!», murmelte Guerrini.
«Sie können es ja in den Hotels versuchen. Aber ich kann Ihnen jetzt schon sagen, dass zwei geschlossen sind, und die andern sind so teuer, dass es eine Schande ist. Da zahlen sie hundertfünfzig bis zweihundert Euro pro Nacht. Mindestens. Wegen Wellness. Das hier kostet fünfundvierzig, und das Bad ist nagelneu.»
«Mir gefällt’s!» Laura öffnete eins der beiden Fenster und lehnte sich hinaus. Links konnte sie den Kirchturm sehen, gegenüber lag ein Lebensmittelgeschäft mit einer Zapfsäule für Benzin. Sie konnte sogar einen kleinen Ausschnitt der Piazza sehen, über die gerade ein braun-weiß gefleckter Hund lief.
«Auf der Piazza haben sie mit neuen Ausgrabungen begonnen», sagte die Frau in der Kittelschürze. «Zwei Minuten von hier.» Plötzlich lachte sie. «Mir ist es manchmal ganz unheimlich, wenn ich mir vorstelle, was unter unseren Füßen liegt. Wir leben alle auf einem Berg von Knochen und Scherben und Mauern. Vielen Schichten von Knochen und Steinen. Irgendwann werden wir dann selbst
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