Die Stunde der Zikaden
sie auf der Hut.
«Einen Augenblick noch!» Ruben bedeckte die Sprechmuschel seines Handys mit einer Hand. «Es dauert nicht mehr lange!»
Als Laura nickte, drehte er sich um, ging ans Ende der Dachterrasse und sprach weiter leise in sein Telefon. Die Aussicht von hier oben war beeindruckend. Knapp unter dem schützenden Dach der Pinien genoss man den Ausblick aufs Meer und die dichte Macchia. Große Kübel mit Palmen und Bambus fassten die Terrasse ein, dazwischen standen Gruppen edler Korbsessel mit blauen Polstern. Auch Ruben hatte offensichtlich gerade gefrühstückt, denn auf einem – natürlich blauen – Tablett, stand eine Kaffeetasse, lag ein angebissenes Croissant, daneben etwas Butter und ein halbvolles Glas Orangensaft.
«Entschuldigung, das war ein wichtiges Gespräch. Ein Geschäftspartner. Möchten Sie einen Kaffee?»
Er wirkte verbindlicher als bei ihrer ersten Begegnung. Nicht wirklich freundlich, aber immerhin verbindlicher, dachte Laura. Seine Augen sind genauso neutral wie neulich. Laut sagte sie: «Nein, danke. Ich wollte nur kurz vorbeischauen. Wie geht es Ihrem Burnout?»
Er lächelte abwesend.
«Setzen Sie sich doch.»
«Nur ein paar Minuten, danke. Wir wollen nämlich zu den heißen Quellen nach Saturnia.»
«Da war ich noch nicht.»
«Ich auch nicht. Es soll wunderbar sein. Conte Colalto hat es uns empfohlen. Kennen Sie zufällig die Contessa Colalto? Wir waren gestern Abend auf ihrem Landsitz zum Dinner eingeladen. Es war beeindruckend. Die Contessa ist wirklich eine Kennerin antiker Kunst.»
«Ach.» Er nippte an seinem Orangensaft und musterte Laura so nachdenklich, als überlegte er, ob er sie für eine schwachsinnige Schwätzerin halten sollte oder für eine Gefahr.
«Ich sagte Ihnen doch schon, dass ich den Conte nicht kenne, weshalb sollte ich da seine Schwester kennen?»
Er kennt sie, dachte Laura. Er weiß, dass die Contessa Enricos Schwester ist. Dabei könnte sie auch seine Mutter oder seine Frau sein. Reingefallen, Herr Ruben! Laut sagte sie dagegen:
«Nun, ich dachte, weil Sie doch etwas mit Kunst zu tun haben. So was kann ich Menschen ansehen. Es sind ganz besondere Menschen, die ihr Leben der Kunst widmen.»
Jetzt schaute er weg, stellte das Glas ab und strich mit einer Hand über die Haarstoppeln auf seinem braungebrannten Schädel, als wollte er sichergehen, dass sie noch da waren. Endlich räusperte er sich.
«Haben Sie sich noch nie geirrt bei solchen Beurteilungen? Ich kann Ihnen versichern, dass ich mit Kunst nichts zu tun habe und auch nicht gewillt bin, irgendwelche Auskünfte über mein Berufsleben zu geben. Nehmen Sie das bitte nicht persönlich, aber so halte ich es eben! Ich frage Sie auch nicht, was Sie oder Ihr Begleiter beruflich machen. Also lassen wir es dabei. Genießen wir lieber den Blick aufs Meer, die Sonne und die gute Luft.»
Seltsam, dachte Laura. Er vertritt eine ähnliche Philosophie wie mein obdachloser Freund Ralf. Der wollte auch nichts von Herkunft, Beruf oder sonst was wissen und bestand darauf, dass nur der Augenblick der Begegnung zählte. Kein Vorher oder Nachher, nur das Jetzt. Allerdings wollte er nichts verbergen, wie Ruben. Für Ralf zählte wirklich nur der Augenblick.
«Ja», erwiderte sie deshalb, «Sie haben völlig recht, Herr Ruben. Im Leben zählt nur der Augenblick. Jetzt allerdings ist er vorbei, und ich mache mich auf den Weg nach Saturnia. Mein Freund wartet sicher schon auf mich.»
Er zuckte die Achseln und begleitete sie nach unten, ohne zumindest höfliches Bedauern darüber auszudrücken, dass sie schon ging. Er mochte sie nicht, und Laura war sicher, dass er sie inzwischen für dumm und nicht sonderlich gefährlich hielt. Deshalb winkte sie ihm noch einmal besonders freundlich zu und sah amüsiert, wie er nur müde die Hand hob und sich schnell wegdrehte.
Guerrini wartete an der nächsten Kreuzung hinter hohen Lorbeerhecken.
«Allora, dimmi! Du siehst aus, als hättest du eine Erkenntnis gewonnen!»
«Hab ich auch. Ruben kennt deinen wunderbaren Conte mit dem Pflug und sicher auch die Contessa. Er hat sich verplappert. Und wie war’s bei dir?»
«Nichts Besonderes. Sie hatten es eilig. Wollten angeblich zum Einkaufen und in ein Museum nach Grosseto. Immerhin habe ich einen Espresso bekommen, und sie haben so getan, als würden sie sich über meinen Besuch freuen. Ich habe das Gespräch auf den verschwundenen Wärter gebracht, aber sie schienen nicht interessiert. Ich finde, wir sollten wirklich den
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