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Die Stunde der Zikaden

Die Stunde der Zikaden

Titel: Die Stunde der Zikaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Felicitas Mayall
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hast du eine Freundin, Guerrini?»
    «Schon eine ganze Weile.»
    «Bringst du sie morgen mit nach Sovana?»
    «Ja, natürlich.»
    «Können wir dann reden?»
    «Wir können. Sie ist eine Kollegin.»
    «Aus der Questura in Siena? Kenne ich sie?»
    «Nein, du kennst sie nicht. Sie ist Deutsche.»
    «Oho! Bin gespannt! Dann sehen wir uns morgen um halb zwölf vor der Dorfkirche Santa Maria in Sovana. Nicht vor dem Dom. Bene? Ich freu mich!»
    «Ich mich auch, Ignazio. Ciao!»
    Guerrini legte das Telefonino auf die weiße Spitzendecke des Doppelbetts und öffnete das zweite Fenster. Draußen roch es nach Holzfeuer. Besser als Mottenkugeln, dachte er und schaute sich mit leichtem Schauder im Schlafzimmer um. Der Tod jeglicher Erotik! Er fragte sich, weshalb er zugestimmt hatte, die Nacht in diesem Bett zu verbringen, das unter der Last eines sehr langen, frommen Ehelebens begraben schien. Noch konnten sie es sich anders überlegen, das Gepäck war im Wagen. Viel hatten sie ohnehin nicht mitgenommen. Er lief zur Tür und ins Treppenhaus, wollte nach Laura rufen. Sie saß auf den Stufen, die Anmeldungen auf den Knien. Langsam hob sie den Kopf, eine Locke fiel ihr ins Gesicht.
    «Die Signora kocht gerade Brombeergelee», sagte sie und lächelte ihm zu. «Sie hat uns ein Glas versprochen und auch eins von ihrer Feigenmarmelade. Was ist? Schlechte Nachrichten?»
    «Nein, nein. Ich wollte nur unsere Taschen aus dem Wagen holen. Morgen treffen wir übrigens einen Freund und Kollegen. Er ist zufällig in der Nähe. Wir treffen uns in Sovana, nur ein paar Kilometer von hier. Du wirst ihn mögen. Er arbeitet in Rom.»
    «Ja, gut. War noch was anderes?»
    «Ich wollte ein anderes Zimmer suchen.»
    «Ja?»
    «Jetzt nicht mehr.»
    «Warum nicht?»
    «Wegen des Brombeergelees und der Feigenmarmelade und der Art, wie du auf den Stufen sitzt.»
    «Ach.»
    «Es wäre eine Beleidigung für die Signora.»
    «Ja, das wäre es.»
    Er setzte sich neben sie, stützte die Ellenbogen auf seine Knie, verschränkte die Hände und legte sein Kinn darauf.
    «Um ehrlich zu sein: Ich fürchte mich vor diesem Bett.»
    «Weshalb?»
    «Es ist für mich das Bett der begrabenen Liebe.»
    «Ich werde dir so lange aus dem Gastmahl bei Trimalchio vorlesen, bis du einschläfst.»
    «Ich weiß nicht, ob das helfen wird, Laura.»
    «Da wäre ich nicht so sicher, Angelo. Lass es doch einfach auf dich zukommen, dieses Bett!» Er versetzte ihr einen leichten Stoß.
    «Du bist ein Biest, Laura.»
    «Wer ist gerade auf dem Weg durch seine Vergangenheit? Du oder ich? Kneifen gilt nicht, Commissario! Außerdem ist mir kalt, und ich will endlich in die berühmten heißen Quellen!»
     
    Ernesto Orecchio hatte jegliches Gefühl für Zeit verloren, wusste nicht, ob es Tag oder Nacht, ob er seit einer Woche oder erst seit einem Tag in diesem dunklen Zimmer eingesperrt war. Er wusste nur, dass er noch am Leben war. Sie hatten ihn nicht erwürgt. Noch nicht. Er wusste nicht, warum sie es nicht getan hatten.
    Sie gaben ihm zu essen. Nicht viel, aber er brachte ohnehin nicht viel runter, weil ihm dauernd schlecht war. Sie leerten auch seinen Eimer.
    Ab und zu kam der Vermummte oder ein anderer Vermummter. Sie sahen alle gleich aus. Vielleicht war es auch immer derselbe. Orecchio hatte keine Ahnung. Es war ihm auch egal.
    Der Vermummte redete nicht mehr mit ihm. Auch das war klar, machte ihm aber trotzdem Angst. Was sollte der mit einem zum Tode Verurteilten auch reden. Er war nichts mehr wert, es gab ihn eigentlich nicht mehr, weil er so gut wie tot war. Mit Toten redete man nicht.
    Einmal brachte der Vermummte ihm eine Zeitung. Aber es stand nichts über den weißen Lieferwagen oder den verschwundenen Fahrer drin. Auch nichts über sein eigenes Verschwinden. Er fragte sich, ob außer seiner Mutter irgendjemand bemerkt hatte, dass er nicht mehr da war. Ob jemand nach ihm suchte.
    Die Anderen würden so tun, als hätte es ihn nie gegeben. Auch seine Kollegen, die mit ihm Dienst an der Pforte hatten? Auch Fabrizio? Wahrscheinlich hatten die gar nichts mitbekommen. Die Anderen hatten sich wahrscheinlich was ausgedacht. Auch das kannte Orecchio aus Filmen. Die hatten einfach gesagt, dass er für eine Weile woanders arbeiten müsste. Oder dass er was geklaut hätte und abgehauen sei. Wäre er ja beinahe. Hatte aber nicht geklappt.
    Er hatte alles falsch gemacht. Alles. Wie immer. Plötzlich hasste Orecchio sich selbst mit solcher Intensität, dass er Schmerzen empfand. Abgebrochene

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