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Die Stunde der Zikaden

Die Stunde der Zikaden

Titel: Die Stunde der Zikaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Felicitas Mayall
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Seeigelstachel. Er sah sie in seiner Haut stecken. Warum hatte er nicht auf ihre Anweisungen gewartet? Sie sorgten für ihre Leute. Jedenfalls für die, auf die sie sich hundertprozentig verlassen konnten. Warum hatte er nicht darauf vertraut, dass sie auch für ihn sorgen würden? Warum konnte man sich auf ihn nicht hundertprozentig verlassen? Er wusste es nicht, wäre gern jemand gewesen, auf den man sich hundertprozentig verlassen konnte. Aber das war er noch nie gewesen. Wenigstens das wusste er. Vielleicht lag es daran, dass man sich auf das Leben nicht verlassen konnte. Vielleicht lag es an diesem verfluchten Erdbeben. Kein einziger tröstlicher Spruch eines berühmten Menschen kam ihm in den Sinn. Nur ein Satz der heiligen Katharina von Siena: Nicht der Beginn wird belohnt, sondern einzig und allein das Durchhalten.
    Orecchio stöhnte laut und kauerte sich unter seiner Decke zusammen. Er hatte nie durchgehalten. Immer wieder begonnen hatte er. Immer wieder. Vielleicht war es gut, zu sterben. Nur war es nicht gut, so lange darauf warten zu müssen.
     
    «Es könnte das Paradies sein, wenn es nicht so eindeutig nach Hölle stinken würde.» Lauras Nacken ruhte auf einem runden Stein, und sie sah zu den Sternen hinauf. Bis zum Hals lag sie in einem kreisrunden Becken, dessen Boden mit kleinen kreisrunden Kieseln bedeckt war. Dampf stieg in dichten Wolken zum Himmel auf und verschleierte die Sterne. Der Hang unterhalb der alten Mühle am Fuß von Saturnia bestand aus vielen runden Wasserbecken, die der schweflige, heiße Fluss in den Felsen gegraben hatte. Vermutlich hatten bereits die Römer hier gebadet und manches wilde Fest gefeiert, zu Ehren des Gottes Saturn, dachte Laura. Die berühmten Saturnalien, die man heute Orgien nennen würde. Massenorgien. Lächelnd erinnerte sie sich daran, dass ihr Vater, bei all seiner Begeisterung für die Römer, bestimmte Aspekte der römischen Kultur als ungeeignet für die Ohren seiner jungen Tochter betrachtet hatte.
    Laura streckte die Hand nach Guerrini aus, der im Nachbarbecken lag, und berührte seinen Arm.
    «Was hast du gesagt?» Er hob leicht den Kopf.
    «Ich sagte, dass dies ein Paradies sein könnte, wenn es nicht so nach Hölle stinken würde.»
    «Es ist der Fluss der Unterwelt, aus den Tiefen der Erde. Man kann es auch Hölle nennen. Ungeheuer heilsam für Körper und Seele.»
    «Die Hölle?»
    «Sie weckt alle Lebensgeister.»
    «Gefährliche?»
    «Durchaus.»
    «Tu nicht so verdammt überlegen.»
    «Bin ich gar nicht, nur völlig hingegeben dem heißen Höllenstrom.»
    «Dann sagen wir besser nichts mehr.»
    «D’accordo.»
    Am Rand der Erde, knapp über dem dampfenden Fluss, erschien der Mond. Es war wirklich besser, nichts mehr zu sagen.
     
    Viel später näherten sie sich vorsichtig dem riesigen Bett mit der Spitzendecke. Nach dem Bad im Schwefelwasser hatten sie köstlich gespeist. Günstig und gut, wie die Signora versprochen hatte. Wildschwein und Lamm. Keine Nachspeise.
    Am Nebentisch hatte ein zehnjähriger Junge eine Riesenportion Spinat verzehrt. Nur Spinat, sonst nichts.
    «Man sollte das Schwefelwasser möglichst lang auf der Haut lassen, damit es einwirken kann», sagte Guerrini und betrachtete nachdenklich die steifen Laken und die festgestopften Decken.
    «Ehebetten haben in meinem Land etwas beängstigend Endgültiges», murmelte er. «Es ist mir noch nie so extrem aufgefallen. Sieh dir dieses Bett an. Sich einfach hineinzulegen, ist völlig unmöglich. Du musst mit Gewalt diese Laken und Decken herausreißen. Wenn du endlich hineinschlüpfen kannst, dann musst du mit deinem Partner um genügend Decke kämpfen oder sehr nah bei ihm schlafen, auch wenn dir nicht danach ist.»
    «Ich sollte deine philosophischen Betrachtungen über italienische Ehebetten mitschreiben», erwiderte Laura und zerrte am Laken. «Wahrscheinlich gehört auch das zu deiner Aufarbeitung der Vergangenheit. Ich jedenfalls bevorzuge getrennte Decken. Zumindest bei länger dauernden Beziehungen. Mit dir halte ich es derzeit noch unter einer Decke aus. Aber nicht, wenn sie festgestopft ist!»
    «Ah, du bist schon wieder so sachlich.» Mit einem letzten Ruck befreite er das Bett von der Umklammerung durch Laken und Decke, warf sich hinein und musterte stirnrunzelnd die Päpste und Padre Pio an den Wänden. Ein bisschen lag es sicher am Wein, ein bisschen am Bad im Fluss der Unterwelt, dass Laura beim Anblick von Commissario Guerrini in Boxershorts und Unterhemd auf

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