Die Stunde des Fremden
Ihrer Hut, lieber Freund! Seien Sie auf Ihrer Hut! Und wenn Sie sich's überlegt haben, kommen Sie zu mir.«
»Eher treffe ich Sie in der Hölle.«
»Durchaus möglich«, sagte Harlequin.
Dann war er fort, und Ashley blieb allein zurück auf der Terrasse hoch über dem sommerlichen Meer. Durch die Entfernung gedämpft, wehten die Geräusche vom Strand her zu ihm herauf. Die Rufe der braungebrannten Jungen, das schrille Gelächter der Mädchen, das Aufklatschen der Springer, die blecherne Musik aus Kofferradios und das Tucktuck eines kleinen Ausflugdampfers. Es war Ferienzeit im Süden – die Zeit für Sirenengesänge, die Zeit für Tänze der Faune. Wer klug war, verbrachte seine Tage in der Sonne und seine Nächte mit einer schönen Frau unter den Orangenbäumen oder auf dem warmen Sand vor den Klippen. Nur ein Narr wie er vertat seine Tage und Nächte damit, in den Sünden eines anderen zu wühlen.
Er fragte sich, wer von den vor sich hin dösenden Tausenden dort unten am Strand wohl die Geschichte lesen würde, die er für sie alle geschrieben hatte. Und wer würde ihm, wenn er sie gelesen hatte, dafür danken?
Wozu soll ich sie also erst schreiben? Wozu soll ich mein Leben riskieren und mein Seelenheil im geheiligten Namen der Wahrheit? Ist eine Unterzeile ein Leben wert? Lohnt es sich, für eine Revolution auch nur eine einzige Stunde am Strand mit einer aufregenden Frau zu opfern?
Was ist schon Wahrheit? Eine heilige Verpflichtung, die einem niemand dankt. Und Gerechtigkeit? Eine blinde Göttin, deren Waagschalen nie ganz richtig ausbalanciert sind. Und Stolz – Ehrgeiz – Eitelkeit? Sie alle treiben einen Mann vorwärts.
Einen Beruf habe ich gewählt, in dem ich etwas Besonderes zu leisten hoffte. Er hat mir auch Freude gemacht, und ich habe mich schließlich mit seinen Grenzen abgefunden. Und die Verantwortung für seine Sünden geteilt. Die Leistungen eines Mannes kann nur beurteilen, wer die Grenzen seiner Persönlichkeit kennt. Selbst der allmächtige Gott im Himmel mildert die Wirkung unfehlbarer Gerechtigkeit durch unendliche Gnade.
Wenn ich mich also selbst mit soviel Milde beurteile – warum dann nicht auch Vittorio, den Herzog von Orgagna?
Auch er ist nur ein Mensch, gefangen in den Grenzen seiner Persönlichkeit, seiner Vergangenheit und seiner Aufgabe. Als Kind tausendjähriger Intrigen wurde er in einem traditionsreichen Land geboren. Sein Beruf und seine Aufgabe sind Politik und Geldwirtschaft. Auch er kann nur aus seinem Milieu heraus und im Schatten seiner eigenen Geschichte beurteilt werden. Mit welchem Recht kann ich ihn verdammen?
Es war ein ganz neuer, durchaus beunruhigender Gedanke. Doch noch ehe er sich weiter damit beschäftigen konnte, klingelte das Telephon, Ashley ging zurück in die luftige Kühle der Halle. Roberto telephonierte an der Portiersloge.
»Pronto! Come si chiama! Garofano … aspett' un moment'.«
Er sah Ashley an. »Signor Ashley! Ein Herr möchte Sie sprechen. Ein Herr namens Garofano.«
»Bitten Sie ihn hierher.«
Roberto sprach wieder in das Telephon:
»Il signore aspetta nella salone. Si, si, subito!« Er legte den Hörer auf und wandte sich Ashley zu. »Er kommt jetzt, Signore. Wünschen Sie Drinks? Ich habe nebenan noch Gäste zu bedienen, und …«
»Nein. Nur zwei Kaffee.«
»Zwei Kaffee? Das wird ein paar Minuten dauern, Signore.«
»Wir werden warten.«
Roberto verbeugte sich und zog sich zurück. Einen Augenblick später trat Enzo Garofano ein.
Er war ein dünner, dunkel häutiger, schäbig wirkender Bursche mit einem schmalen Gesicht und unruhigen, zu dicht beieinander stehenden Augen. Angezogen war er in der gerade modernen neapolitanischen Manier, mit einer kurzen, engen Jacke, Röhrlhosen und hochglänzenden überspitzen Schuhen. Er ging schnell und ruckartig, und alle seine Bewegungen wirkten nervös und gehetzt. Unter dem Arm trug er eine reichlich abgenutzte Aktentasche.
»Es freut mich, Sie zu sehen, Garofano«, sagte Ashley heiter. Er streckte ihm die Hand entgegen. Garofano schüttelte sie ohne Begeisterung und sagte nichts.
Der Italiener ließ sich vorsichtig in einen Stuhl sinken, lehnte seine Aktentasche gegen ein Tischbein und begann, sein Gesicht mit einem Taschentuch zu reiben. Dann steckte er das Taschentuch weg und suchte nach einer Zigarette. Ashley hielt ihm seine Schachtel hin und gab ihm Feuer. Garofano nahm ein paar tiefe Züge. Seine Hände zitterten.
»Nur Ruhe, mein Freund«, sagte Ashley obenhin,
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