Die Stunde des Fremden
denn diesmal?«
»Was für eine Geschichte …?«
Erst jetzt fiel ihm ein, daß sie selbst in die Geschichte verwickelt war – weil sie nicht mehr die Geliebte von Richard Ashley war, sondern die Frau von Vittorio, Herzog von Orgagna.
Es wurde Ashley plötzlich klar, daß er ohne die Photokopien gar keine Geschichte hatte. Er dachte an Robertos dunkle Warnung und an die Begegnung mit Elena Carrese.
Er wußte jetzt, daß Rossanas Auftauchen kein Zufall sein konnte, sondern Teil eines wohlüberlegten Planes zur Verhinderung der Veröffentlichung seiner Geschichte sein mußte. Wieweit sie selbst in diesen Plan verwickelt war, wußte er nicht. Er mußte es sofort erfahren – oder zusehen, wie sein Triumph ihm im letzten Moment entrissen wurde.
»Die Geschichte? Was spielt die jetzt, wo du da bist, schon für eine Rolle? Wieso bist du hier? Wann bist du angekommen? Und warum?«
»Ich lebe hier, Richard«, sagte sie. »Mein Mann hat eine Besitzung auf der Halbinsel. Drüben am Kap haben wir einen Sommersitz.«
»Oh! Ist dein Mann auch hier?«
»Er kommt heute abend von Rom. Wir essen hier, bleiben über Nacht im Hotel und fahren morgen früh in unser Haus.«
Sie sahen einander über den Tisch an. Ihre Augen waren sanft, ihre Lippen weich. Alte Erinnerungen bewegten sein Herz. Aber er war Vierzig und hatte gelernt, vorsichtig zu sein.
»Dann hast du vielleicht ein oder zwei Stunden für mich Zeit?« fragte er.
»Gewiß. Wenn du willst«, antwortete sie lächelnd.
Er dachte: Nicht hier im Hotel, wo Roberto ist, und Elena Carrese. Nicht nach dem skandalösen Auftritt mit Garofano. Nicht hier, kurz bevor Orgagna kommt, und wo das Personal in Besenkammern oder auf den Korridoren tuschelt.
»Hast du einen Wagen, Rossana?«
»Ja.«
»Dann lass uns irgendwohin fahren.«
»Auf den Berg? Es ist einsam dort und still. Wir können reden und uns erinnern.«
»Komm, fahren wir!«
Als Roberto durch die Halle zurück zur Bar ging, sah er die beiden hinausgehen. Er beobachtete, wie Ashley an der Portiersloge haltmachte, sein Manuskript in einen großen Umschlag steckte und im Hotelsafe deponierte. Ihm entging auch nicht, daß sie Hand in Hand hinaus in die Sonne traten, wie ein Liebespaar.
Rasch ging Roberto hinter die Bar und hob den Telephonhörer ab.
Ashley manövrierte den großen blauen Isotta aus der Hotelauffahrt und steuerte ihn durch die engen, kopfsteingepflasterten Straßen zur Stadtmitte von Sorrent. Auf dem Platz entstiegen gerade Schwärme von Touristen den Nachmittags-Omnibussen, und die Droschkenkutscher stürzten sich auf sie. Das Klappern der Pferdehufe und das Klingeln der silbernen Glöckchen mischte sich mit dem Lärm der Hupen und dem Geschrei der Hotelportiers, die sich um das Gepäck stritten. Langsam fuhr Ashley durch die dichtgedrängte Menge und den Korso hinauf zum Grat des Kaps.
Erst als sie die erste Anhöhe hinter sich gelassen hatten und sich auf der schmalen Straße durch Olivenhaine emporschlängelten, während die Dörfer und das Meer hinter ihnen zurückblieben, begann Rossana zu sprechen.
»Es ist ganz wie früher, Richard.«
»Wie früher. Ja.«
Früher – das war vor zehn Jahren, als der Krieg noch ziemlich frisch in der Erinnerung war, als der Reporter Richard Ashley noch seine Milchzähne hatte und Rossana Benedetto ein kleines Mädchen war, froh über ihre erste Anstellung, dankbar für die Umarmung eines Mannes und für eine Essensmarke nach dem Hunger während der mageren Jahre.
Früher – das waren die guten Zeiten: ein luftiges kleines Appartement, noch ehe die Mietwucherer an die Macht kamen. Nachmittags in den Tivoli-Gärten, Abendessen in den Straßenrestaurants, Sonntagsausflüge nach Frascati und Ostia und ein gelegentliches Wochenende in Florenz oder Venedig. Früher – das waren die Tage der Leidenschaft, als Liebe allein mehr als genug und ein Trauschein eine ganz überflüssige Ausgabe zu sein schien …
Dann hatte man Ashley nach Berlin geschickt. Zur Aushilfe, hieß es. Aber man behielt in länger als ein Jahr dort. Und während er fort war, kam der Brief von Rossana, in dem sie ihm sagte, daß die alten Zeiten vorüber seien, daß sie an ihre Zukunft denken müsse und einen Mann mit einem Einkommen und einem Namen zu heiraten gedenke. Er hatte ihr damals keine Vorwürfe gemacht, und er machte ihr auch jetzt keine Vorwürfe. In Italien gab es zu viele Faulenzer, zu viele wurzellose Burschen wie ihn selbst, die zwar die Leidenschaftlichkeit der
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