Die Stunde des Löwen
entdeckte Fremden an der mit Nut- und Federbrettern verkleideten Wand eine angepinnte Ansichtskarte vom Kolosseum in Rom. Er nahm sie ab, um den Text zu lesen. »Wir müssen uns bald mal wieder treffen. Herzliche GrüÃe aus dem Süden, Selma«. Fremden pinnte die Karte wieder zurück an die Wand. Dann trat er ans Fenster. Von der Küche aus war der See nicht einzusehen. Hier war lediglich ein Wald aus Birken, deren Stämme hell in der Wintersonne leuchteten.
Was war an jenem Sommerabend geschehen? Die Frage begann ihn allmählich tatsächlich zu interessieren. Falls es der Realität entsprach, dass jemand Bruckner ins Wasser gestoÃen hatte, mit dem Ziel, ihn zu töten, musste er definitiv Feinde gehabt haben. Liliana Bode hatte die Frage danach mit einer flapsigen Bemerkung abgetan.
Auf die Fensterbank gestützt, versuchte Fremden, sich ein mögliches Mordszenario vorzustellen. Zwei oder mehrere Personen auf dem Bootssteg. Kämpften sie miteinander, oder schlichen sich der oder die Mörder an Hugo Bruckner heran? Anscheinend hatte die Leiche keine sichtbaren Verletzungen aufgewiesen. Anderenfalls hätte die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren einleiten müssen. Fraglich war, warum Bruckner nach dem Sturz ins Wasser nicht ans rettende Ufer geschwommen war. Ob er es nicht tat, weil er das Bewusstsein verloren hatte, weil er Nichtschwimmer gewesen war oder weil er vielleicht daran gehindert worden war.
Allerlei ungeklärte Fragen im Kopf, begab sich Fremden nach drauÃen auf den Bootssteg. In gebeugter Haltung schritt er die schneebedeckten Planken ab. Es durfte ihn nicht wundern, dass er nach so langer Zeit keine Kampfspuren mehr fand. Am Stegende öffnete er seine Hose und pinkelte in den See. Dampf erhob sich, als sein Urin auf das eiskalte Wasser traf.
Zurück am Ufer, holte er sein Handy aus der Tasche. Was genau er fotografieren sollte, wusste er selbst noch nicht. Halbherzig machte er einige Aufnahmen vom Steg, der Umkleidekabine, dem Strandkorb und dem Ferienhaus. Das Objektiv des Handys auf den Birkenwald gerichtet, sah er im Display plötzlich etwas Helles durch die Baumreihen blitzen. Beim Heranzoomen erkannte er, dass es die weià verputzte Mauer eines Hauses war, das etwa zweihundert Meter Luftlinie entfernt am östlichen Ufer stand. AuÃer dem der Bruckners schien es das einzige Gebäude auf dieser Seite des Sees zu sein.
Wenige Minuten später drückte Fremden auf eine Klingel mit der Aufschrift »V. Kaczorowski Kräuter und Heilmittel« . Doch auch nach dreimaligem Klingeln wurde ihm nicht geöffnet. Enttäuscht trat er einige Schritte zurück und betrachtete die Hausfassade. Hier blätterte nichts ab, und auch die Fensterläden waren ordentlich geschlossen. An der Wand neben der Eingangstür lehnte ein Besen. Mehrere Ster Holz lagerten im Unterstand. Und im Vorgarten schützten Kartoffelsäcke die Rosenbüsche vor dem Frost. Auf den ersten Blick gab es nichts, was den Eindruck von biederer Normalität trübte. Dennoch beschlich ihn das Gefühl, dass mit dem Haus irgendetwas nicht stimmte. Zögernd holte er eine Visitenkarte aus der Tasche. Auf der Rückseite notierte er seine Handynummer mit der Bitte, sich bei ihm zu melden. Dann schob er die Karte unter der Tür hindurch.
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Dass Milan Tassen im Frankfurter Zoo im Nashornhaus arbeitete, hatten sie von Magdalena Eisner erfahren. Nach Passieren des Zoogesellschaftshauses erreichten sie die ersten Freigehege. Gut gelaunt schritt Mannfeld vorneweg und dirigierte Born über die schneegeräumten Gehwege in den hinteren Teil der Anlage. In zwei, drei Jahren würde Henry so weit sein, dass sie mit ihm hierherkommen konnte. Im Gegensatz zu vielen Skeptikern fand sie es geradezu phantastisch, mitten in der GroÃstadt australische SüÃwasserkrokodile, Sumatra-Orang-Utans, Netzgiraffen und Wüstenleguane besuchen zu können. Besonders das Exotarium mit seinen zahlreichen Terrarien und Aquarien hatte es ihr angetan. Einziger Wermutstropfen an einem kalten Wintertag wie diesem: Viele der Tiere waren in den Häusern untergebracht.
Am Nashornhaus angekommen, erhielt ihre Stimmung jedoch einen kleinen Dämpfer. Nicht wegen des bestialischen Gestanks, der dort herrschte, sondern weil ihnen ein Tierpfleger mitteilte, dass sich Milan Tassen am Morgen krankgemeldet hatte.
»Was hältst du von der These«, brummte Born auf
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