Die Stunde des Löwen
dem Weg zum Ausgang, »dass sich die Tassen im Sheraton mit ihrem Lover getroffen haben könnte? Und dass dieses Treffen dann gehörig aus dem Ruder lief?«
»So was in der Richtung hast du vorhin schon mal angedeutet. Es ist aber überhaupt nicht gesagt, dass die alte Dame â¦Â«
»â¦Â zum Vögeln ins Hotel gefahren ist?«, vollendete Born ihren Satz. »Mag sein. Es ist aber sehr wahrscheinlich. Das sagt mir mein Instinkt.«
»Indizien hast du aber keine. Das Opfer war vollständig bekleidet, das Bett unberührt. Und deine Schäferstündchenthese erklärt nicht, weshalb der Tisch und der Stuhl in der Mitte des Raums standen.«
»Sie hatte überhaupt kein Gepäck dabei«, hielt Born dagegen. »Und sie hat sich ein Zimmer in ihrer Heimatstadt gemietet. Nur für eine Nacht. Was hätte sie denn sonst im Sheraton tun sollen?«
»Das, mein Lieber, versuchen wir ja gerade durch Befragungen von Zeugen herauszubekommen.«
»Dass unser Opfer nicht unbedingt prüde war, beweisen doch die Aktzeichnung im Schlafzimmer und der Marquis de Sade im Bücherschrank.«
»Ich will ihr ja auch nicht unterstellen, dass sie wie eine Nonne gelebt hat. Aber das Buch kann sie theoretisch schon vor dreiÃig Jahren gekauft oder gar geschenkt bekommen haben.«
»Nein«, entgegnete Born grinsend. »Die Ausgabe stammt von 2006. Die hat sie wahrscheinlich selbst gekauft. Oder würdest du einer alten Dame so eine heiÃe Lektüre schenken?«
Kopfschüttelnd griff sie das Argument mit der Aktzeichnung auf. »Anscheinend war Selma Tassen Hobbymalerin. Da ist es doch nichts Besonderes, dass sie auch mal einen nackten Menschen malt.«
»Einen nackten Mann «, konkretisierte Born. »Adonistyp. GroÃen Wert hat sie auf die detailgetreue und, realistisch betrachtet, deutlich überdimensionierte Darstellung des Geschlechtsteils gelegt. Und das Ergebnis hat ihr offenbar so gut gefallen, dass es einen Ehrenplatz über dem Bett bekam.«
Auf Höhe des Streichelzoos blieb Mannfeld stehen und packte Born am Arm. »Was ist mit der Notiz? âºMontag 20.30  Uhr Lakaiâ¹. Wie passt die ins Bild?«
»Damit war Simon Patenstein gemeint.«
»Richtig«, sagte Mannfeld. Der »glühende Verehrer«, wie die Nachbarin von Selma Tassen ihn genannt hatte, hatte ehrlich erschüttert geklungen, als er übers Telefon vom Tod seiner Angebeteten erfuhr. Er sei gestern tatsächlich mit ihr verabredet gewesen, lieà er sie wissen, doch sie habe kurzfristig abgesagt. Mannfeld hatte angekündigt, ihn am späten Nachmittag in seinem Laden aufzusuchen, um ihm einige Fragen zu stellen. »Aber das Wort âºLakaiâ¹ ist in diesem Zusammenhang doch seltsam, findest du nicht? So nannte man früher einen Diener in Livree. Mittlerweile hat die Bezeichnung eher einen abfälligen Touch.«
»Ja, heute geht âºLakaiâ¹ mehr in Richtung âºStiefelleckerâ¹ oder âºSklaveâ¹. Und da wären wir auch schon wieder beim Thema Sadomaso und Marquis de Sade.«
»Das meinst du nicht im Ernst, oder? Nun, warten wir ab, was für ein Mensch Patenstein ist, das bringt vielleicht schon etwas Licht in die Sache. Vorher lass uns aber noch zu Milan Tassen in die Wohnung fahren. Ich möchte gern wissen, was er zum Tod seiner Stiefmutter zu sagen hat.«
Den Umweg hätten sie sich sparen können. Milan Tassen hatte sich zwar krankgemeldet, war aber augenscheinlich nicht zu Hause â oder er fühlte sich zu schwach, um die Tür zu öffnen. Unverrichteter Dinge zogen sie weiter.
Das Antiquitätengeschäft von Simon Patenstein befand sich in der FriedrichstraÃe, nur wenige Gehminuten von der Wohnung des Mordopfers entfernt. Das Ertönen der Ladenklingel kündigte ihr Eintreten an. Ein GroÃteil der im Verkaufsraum ausgestellten Möbel war aus poliertem Kirschholz gefertigt. Mannfeld lieà ihren Blick über das exklusive Angebot schweifen. Zu Dekorationszwecken war in der Ladenmitte ein Esstisch mit Damasttischdecke, Kristallgläsern, Porzellantellern, Silberbesteck und einem siebenarmigen Kerzenständer eingedeckt.
»Kann ich den Herrschaften vielleicht behilflich sein?« Der aus dem Nebenraum getretene Simon Patenstein wirkte um einiges jünger als Selma Tassen. Mannfeld schätzte das Alter des Mannes auf höchstens Mitte sechzig. ÃuÃerlich erinnerte
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