Die Stunde des Löwen
war es schon, was Bruckner ins ferne Zürich geführt hatte. Er bestellte mich zum Treffpunkt in der Innenstadt und wollte nach Hause. Auf der Rückfahrt musste er pinkeln. Als er auf dem Rastplatz zur Toilette humpelte, bemerkte ich, dass er seinen Mantel im Wagen liegen gelassen hatte. Obwohl Herumschnüffeln nicht gerade meine Art ist, konnte ich es mir trotzdem nicht verkneifen, während seiner Abwesenheit in den Taschen seines Mantels zu stöbern. Und tatsächlich: In der Innentasche fanden sich der Beleg einer Barabhebung und der Auszug eines Nummernkontos mit sagenhaften zwölf Millionen Euro Guthaben. Kannst du dir so viel Geld vorstellen, Heidi? Natürlich notierte ich mir die Kontonummer. Wenige Kilometer vor der Grenze bat mich Bruckner erneut, anzuhalten. Offenbar aus Angst vor den deutschen Grenzbeamten verbrannte er die verräterischen Dokumente in einem Mülleimer. Zu diesem Zeitpunkt hat er wohl noch nicht geahnt, dass die Gefahr von anderer Seite lauerte. Ich forderte eine Million Euro in gebrauchten Scheinen. In einem anonymen Schreiben behauptete ich, ein Mitarbeiter der UBS zu sein, der Computerdaten abgezogen hatte. In den Jahren danach gab es tatsächlich einige solche Fälle. Geplant war, die Ãbergabe in einem abgelegenen Waldstück stattfinden zu lassen. Doch leider merkte ich erst viel zu spät, dass ich in eine Falle getappt war. In eine Falle, die dazu führen sollte, dass ich zum Mörder wurde.«
*Â *Â *
Nach der Befragung von Rosens Nichte Ruth entschloss sich Born, sein Abendessen in Form eines Döners einzunehmen. Frankfurts bestes Karussellfleisch â den flapsigen Ausdruck hatte er am Vortag von einem Halbwüchsigen in der U-Bahn aufgeschnappt â gab es seiner Meinung nach bei Youssef im Bahnhofsviertel.
In der ElbestraÃe, auf Höhe der »Pik-Dame«, stellte sich ihm eine Prostituierte in den Weg. Ob er ânen Moment Zeit habe. Kopfschüttelnd schlug er einen Bogen um das mit einem eng anliegenden weiÃen Skianzug bekleidete Mädchen.
In Youssefs anatolischem Imbiss wählte er einen Fensterplatz mit Blick auf die KaiserstraÃe. Auf dem Hocker neben ihm saà eine klapperdürre Gestalt in einem rot-schwarz gestreiften FuÃballtrikot, das die Aufschrift »Waldstadion« trug. So hatte sich die Commerzbank-Arena früher genannt. Zu Zeiten, als Uwe Bein bei der Eintracht noch den genialen Mittelfeldregisseur gegeben hatte.
Die erste Hälfte des Döners schlang er gierig in sich hinein. Froh, dass Mannfeld nicht Zeugin seiner animalischen Essmanieren war, legte er den zusammengedrückten Fladen auf den Teller und wischte sich etwas JoghurtsoÃe vom Handgelenk. Dann lieà er seinen Blick aus dem Fenster schweifen. Sie hatten Martha Rosens Nichte Ruth an ihrem Arbeitsplatz befragt, einem Schuhgeschäft im Herzen der Altstadt. Von Mannfeld auf ihre viktorianisch anmutenden schwarz gefärbten Korkenzieherlocken angesprochen, hatte die Nichte bestätigt, sich in der urbanen Gothic-Szene zu bewegen und bei Gleichgesinnten unter dem Namen Endura bekannt zu sein. Somit hatte sich ein kleines Mosaikteil des Recherchepuzzles von selbst ins Bild gefügt. Doch darüber hinaus hatte die junge Frau nichts Nennenswertes zu berichten gehabt. Weder kannte sie Cosma noch das Opfer Nummer eins, Selma Tassen. Sie konnte sich auch nicht erinnern, dass ihre Tante den Lohrberg jemals erwähnt hatte. Nur auf die Frage, ob sie sich einen Reim darauf machen könne, weshalb Martha Rosen am Mordabend das Haus verlassen hatte, zögerte sie ein wenig. Martha habe ihr gegenüber einmal eine kryptische Bemerkung fallen gelassen, bekannte sie nach kurzer Denkpause. SinngemäÃ, dass das Leben manchmal wertvolle Ãberraschungen parat habe. Doch welcher Art die seien, habe die Tante ihr nicht verraten wollen.
Nach dem Betreten seiner Wohnung holte sich Born ein Bier und fuhr den Computer hoch. An diesem Abend tat er das nicht nur aus purer Neugier auf die Neuigkeiten oder den Tratsch, den seine Facebook-Freunde ins Netz gestellt hatten. Er tat es auch, weil er überprüfen wollte, ob Martha Rosen über ein Facebook-Profil verfügte. Die Wahrscheinlichkeit hierfür schätzte er allerdings als ebenso gering ein wie im Fall Selma Tassen.
Born fragte sich, welche wertvolle Ãberraschung, von der Martha Rosen ihrer Nichte Ruth erzählt hatte, das Leben für das zweiundsiebzigjährige
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