Die Stunde des Löwen
beendete Inspektion der Wohnung über der Konzertagentur ins Gedächtnis zu rufen. Rosen hatte sofort zugestimmt, dass sie sich in seinen Privaträumen umsahen.
Die Wohnung, in der Opfer Nummer zwei gelebt hatte, erstreckte sich über die gesamten beiden oberen Etagen der Gründerzeitvilla. Die Zimmerwände waren â auÃer in der Küche und im Bad â in wärmeren Farbtönen gehalten als die unten im Büro.
Die Einrichtung bestand zum groÃen Teil aus Teakholzmöbeln aus der Kolonialzeit. Zahlreiche üppig dekorierte Masken, Holzschnitzereien und StrauÃeneier verströmten zusätzlichen Out-of-Africa-Touch.
In Martha Rosens Schlafzimmerschrank fanden sich weitere Stücke ihrer Gothic-Garderobe. Auf Holzbügeln hing ein ganzes Sortiment an schwarzen viktorianischen Blusen, Tüllröcken und Rüschenkleidern mit spitzenbesetzten Armstulpen. Und auf dem Nachttisch lag griffbereit eine Auswahl parapsychologischer und okkulter Literatur: Anleitungen zum Gläserrücken, Pendeln, Kartenlesen und »Das Buch der Toten Namen«. Aber auch Bände zu allerlei anderen obskuren Themen wie Liebeszauber, Golem-Magie, Hexerei, Nahtoderfahrungen und Satanismus stapelten sich hinter dem Lämpchen mit dem Tiffanyschirm.
Selma Tassen hatte in literarischer Hinsicht eher zu klassischer Belletristik von der Sorte Marquis de Sades tendiert. Zudem hing über ihrem Bett das abstoÃende Aktbild mit dem überdimensionalen erigierten Glied.
Okkultismus, bizarrer Sex und Sadismus waren nicht gerade Themen, für die sich über siebzigjährige Frauen für gewöhnlich interessierten.
Mannfeld starrte gedankenverloren auf den Linoleumboden des Konferenzraums und fragte sich, ob die eigenwilligen Faibles der Seniorinnen bei der Opferwahl des Täters eine Rolle gespielt hatten. Selma Tassen und Martha Rosen waren alles andere als Nullachtfünfzehn-Rentnerinnen, wenn man Rentner überhaupt als solche bezeichnen durfte. Auf eine gewisse Art und Weise umgab beide etwas Geheimnisvolles und Undurchdringbares. Und beide waren an den Mordabenden aus dem Haus gegangen. Obwohl sie ihren jeweiligen Partnern gegenüber behauptet hatten, sie würden zu Hause bleiben wollen â im Fall von Selma Tassen begründet damit, dass ihr unwohl sei, im Fall von Martha Rosen mit dem Argument, sie wolle lesen und früh ins Bett gehen.
Ein lautes Räuspern holte Mannfeld zurück in die Gegenwart. Als sie ihren Kopf hob, sah sie Born mit durchgestrecktem Rücken hinter dem Pult Haltung einnehmen. Die Wangen leicht gerötet, dankte er den Kollegen für ihr nahezu pünktliches Erscheinen.
Verwundert stellte sie fest, dass die drei Nachzügler zwischenzeitlich tatsächlich eingetroffen waren und dass jemand das Fenster wieder geschlossen hatte, ohne dass sie es bemerkt hatte.
Born fasste den Stand der Ermittlungen knapp und verständlich zusammen. Als er seinen Vortrag beendet hatte, machte sich allgemeines Gemurmel breit.
»Gibtâs bis zu diesem Punkt irgendwelche Fragen?«
Schwertfeger war der Erste, der sich rührte: »Also, wenn ich das richtig verstehe, gehen wir mit hoher Wahrscheinlichkeit davon aus, dass ein und derselbe Täter die Morde beging. Sollten wir dann nicht abklären, ob noch weitere Taten nach ähnlichem Muster verübt worden sind? Ich meine, der Täter muss ja nicht ausschlieÃlich in Frankfurt zugeschlagen haben.«
»Guter Vorschlag«, lobte Born. »Daran haben wir auch schon gedacht. Jemand sollte die Datenbanken nach ähnlichen Fällen durchforsten. Vielleicht wollen Sie die Aufgabe gleich übernehmen, Schwertfeger?«
»Sollten wir nicht auch die Bevölkerung um Mithilfe bitten?«, fragte Michaela Jones.
»Damit warten wir noch«, antwortete Born. »Ist übrigens auch der Standpunkt des Chefs. Den Schritt in die Ãffentlichkeit gehen wir erst, wenn uns die Zeugenbefragungen und die Datenrecherche nicht weiterbringen. So, nun schlage ich vor, dass wir zur Verteilung der Aufgaben kommen.«
Born erntete sowohl Zustimmung als auch leises Aufstöhnen, als er einen Teil der Kollegen zur Befragung von Rosens Nachbarn einteilte. »Und denkt daran, die Leute auch immer mit dem Foto von Selma Tassen zu konfrontieren. Vielleicht kennt sie ja jemand aus Rosens Nachbarschaft. Apropos Foto.« Born wandte sich Jones und Schilling zu. »Ich möchte, dass ihr den entsprechenden Part
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