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Die Stunde des Löwen

Die Stunde des Löwen

Titel: Die Stunde des Löwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Köhl
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einen leisen Seufzer aus. Eine Beileidskarte würde sie den Hinterbliebenen wenigstens schreiben. Doch nicht heute. Heute hatte sie anderes vor. Die Andeutung eines Lächelns stahl sich auf ihre Lippen. Und damit es diesmal etwas länger dauerte, hatte sie diese Tabletten besorgt.
    Das Läuten des Telefons störte ihre Vorfreude. Mühsam stemmte sie sich aus dem Sessel und humpelte zur Ladestation. Als sie abhob, meldete sich ihre Schwester aus Ginnheim. Ob sie vorbeikommen dürfe, erkundigte sie sich mit weinerlicher Stimme.
    Â»Was ist passiert, mein Liebes?«
    Â»Manuel … Ich glaube … er …«
    Â»Was glaubst du?«
    Â»Die Bowlinggruppe, mit der er sich freitags immer trifft, hat sich schon vor einem halben Jahr aufgelöst.«
    Einen Moment lang blieb es still in der Leitung.
    Â»Wann möchtest du denn kommen?«
    Â»Am liebsten gleich.«
    Â»Gleich geht nicht. Ich hab leider noch eine Verabredung. Aber ab zehn bin ich wieder zu Hause. Dann trinken wir ein Glas Wein, und du kannst auch gern bei mir schlafen.«
    Â»Du bist ein Schatz, Fátima.«
    Â»Das weiß ich doch«, erwiderte sie und dachte: Wenn du nur wüsstest.
    * * *
    Erst als Edgar Rosen auflegte, fiel Fremden auf, dass dem Witwer kein fahrbarer Untersatz mehr zur Verfügung stand. Der Mercedes-Transporter war Minuten zuvor mit den letzten Trauergästen aufgebrochen. Im Grunde benötigte der Mann auch keinen Chauffeur. Den kurzen Weg zu sich nach Hause konnte er zu Fuß zurücklegen. Doch als Rosen sich in Bewegung setzte, schlug er zu Fremdens Überraschung die entgegengesetzte Richtung ein und winkte schon nach wenigen Schritten ein vorbeifahrendes Taxi heran.
    Fremden gelang es nur mit Mühe, den Peugeot so schnell aus der Parkbucht zu lenken, dass er dem in den Reuterweg abbiegenden Wagen folgen konnte. Im Strom des zäh fließenden Verkehrs führte die Fahrt an der Alten Oper vorbei bis ins Bahnhofsviertel. In der einsetzenden Dämmerung warfen die Leuchtschilder der Peepshows, Erotikshops und Multikulti-Läden ihr buntes Licht durch die Windschutzscheibe.
    Nachdem Fremden in der Moselstraße gegenüber dem Hotel »Sascha« geparkt hatte, musterte er die verwitterte und rußgeschwärzte Sandsteinfassade des Altbaus. Über der Eingangstür aus Rauchglas hing ein Neonschild mit zwei blinkenden Sternen. Verwundert beobachtete er Rosen, der aus dem Taxi stieg und im Hotel verschwand. In einer billigen Absteige. Einer Kaschemme, die aussah, als ob die Zimmer stundenweise vermietet würden. Dass den Konzertmanager das Verlangen nach käuflichem Sex hierhergeführt hatte, glaubte er nicht. Dafür hätte jemand seines Formats ein Etablissement der gehobenen Klasse gewählt. Außerdem traute er Rosen nicht zu, dass er sich nur wenige Stunden nach Beerdigung seiner Frau mit einer Prostituierten traf. Dazu hatte die Trauer des Mannes zu authentisch gewirkt.
    Während er wartete, dass Rosen wieder auftauchte, schaltete er das Radio ein. Auf HR3 kam ein Beitrag über den Frauenmord im Sheraton. Die Polizei tappte nach wie vor im Dunkeln. Neu war allerdings, dass es mittlerweile ein zweites Opfer zu beklagen gab.
    Im Anschluss an die Reportage erklangen die ersten Takte eines nervtötenden Ballermann-Hits. Fremden wechselte die Frequenz. Doch auch auf den anderen Kanälen brachten sie nichts, was er gern hören wollte. Nachdem er das Radio ausgeschaltet hatte, wählte er die Handynummer von Liliana Bode. Er ließ es so lange läuten, bis die Mailbox ranging. Eine Nachricht sprach er nicht aufs Band.
    Eine halbe Stunde später starrte er immer noch auf die Rauchglastür des Hotels. Damals, mit fünfzehn, hatte er auch stundenlang auf einen einzigen Punkt gestarrt. Auf das Ende der Straße, weil er in seiner Hilflosigkeit geglaubt hatte, dass er das nur lange genug tun musste, und Felix würde um die Ecke biegen. Am dritten Abend hatte sich die Familie dann im Wohnzimmer versammelt. Sein Vater, seine Mutter, er selbst und Onkel Jonas. Dazu Tante Friede, Mutters Schwester, mit ihrem neunmalklugen Sohn Helmut. Auch ein Polizeipsychologe war anwesend gewesen. Das »Darmstädter Echo« hatte am Morgen über einen Pädophilenring berichtet, den man mit dem Verschwinden von zwei weiteren Jungen in Felix’ Alter in Verbindung brachte. Die beiden stammten ebenfalls aus dem Rhein-Main-Gebiet, waren blond und

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