Die Stunde des Löwen
Trolley hinter sich her. Am Ende des Flurs, vor Parzelle 4F, blieb Fátima de Zosa stehen. Den Druck in ihrem rechten Bein spürte sie immer noch. Eine Woge muffigen Geruchs schlug ihr entgegen, als sie die Wohnungstür öffnete. Das Gesicht zu einer Grimasse verzogen, humpelte sie ins Wohnzimmer und riss das Fenster auf. Die eisige in den Raum strömende Luft bereitete ihr eine Gänsehaut. Obwohl sie nun schon seit über dreiÃig Jahren in Deutschland lebte, würde sie sich wohl niemals an die schneidende Kälte der ewig langen Winter gewöhnen können.
Im Sommer â79 war sie mit ihren Eltern von Porto nach Offenbach übergesiedelt. Unter Heulkrämpfen und Krokodilstränen, weil sie ihre Freundinnen in der Heimat zurücklassen musste: Branca, Mafalda, Fernanda und Violante. Heute konnte sie sich nur noch schemenhaft an sie erinnern. Ihr Vater hatte damals in der Lederfabrik »Goldpfeil« eine Stelle als Zuschneider bekommen.
Im ersten Winter hatte sie geglaubt, in dem fremden Land erfrieren zu müssen. Was sicher auch damit zusammenhing, dass ihre Eltern, um Geld zu sparen, nicht richtig heizten. Und dann hatte sich wenig später auch noch der schreckliche Unfall ereignet. Der Vorderreifen ihres Fahrrads war auf einer Eisplatte weggerutscht, und sie war dermaÃen unglücklich auf die Fahrbahn gestürzt, dass ihr ein Lastwagen übers Bein fuhr. Die Ãrzte im Städtischen Klinikum hatten ihr Bestes versucht. Doch der zertrümmerte Unterschenkel war nicht zu retten gewesen. Sie sei wegen ihres Silberblicks und der fliehenden Stirn ja schon als junges Mädchen das Ziel diverser Hänseleien gewesen, hörte sie ihre Mutter noch heute klagen. Doch nun, mit amputiertem Bein, könne sie die Hoffnung, einen stattlichen Mann abzubekommen, endgültig begraben. Eine Vorhersage, die sich beinahe bewahrheitet hatte.
Nachdem Fátima de Zosa das Fenster geschlossen hatte, machte sie sich ans Auspacken des Koffers. Nur ein paar Tage war sie verreist gewesen. Ein Aufenthalt in einer Spezialklinik nördlich von München. Weil die Prothese wieder Probleme bereitet und den Stumpf wund gescheuert hatte. Im Krankenhaus hatte sie sich die Zeit mit Malen vertrieben. Das mit Schnee bedeckte Zwiebeltürmchen vor ihrem Fenster, den Himmel voller Krähen und das, was ihr sonst so in den Sinn gekommen war.
Das Geräusch sich nähernder Schritte auf dem Hausflur lieà sie aufhorchen. Ein Zeichen, dass Erika vom Einkaufen zurückkehrte. Nun würde sie ihren Kater Lua abholen können, den sie bei ihrer Nachbarin gelassen hatte.
»Magst du ein Tässchen Tee oder Kaffee?«, erkundigte sich Erika, als sie bei ihr in der Küche Platz nahm.
»Kaffee wäre schön«, antwortete sie und streichelte Lua, der ihr zur BegrüÃung auf den Schoà gesprungen war.
Als Erika an den Küchentisch zurückkehrte, stellte sie die Kaffeekanne auf der Zeitung ab. Erst da fiel Fátima de Zosa auf, dass es der Teil mit den Todesanzeigen war, der aufgeschlagen vor ihr lag. Sie las den Namen im obersten der schwarz umrandeten Felder und zuckte innerlich zusammen.
»Von wann ist die Zeitung?«
»Von Samstag. Warum fragst du?«
»Es ist jemand gestorben, den ich gekannt habe.«
Zurück in ihren eigenen vier Wänden, setzte sich Fátima de Zosa in ihren mit Kunstleder bezogenen Wohnzimmersessel. Mit dem Fuà aus Fleisch und Blut knipste sie die Stehlampe an. Dann nahm sie die Zeitung, die Erika ihr mitzunehmen gestattet hatte, und begann zu lesen. Sie hatte die Beisetzung auf dem Frankfurter Hauptfriedhof offenbar um wenige Stunden verpasst. »Unerwartet aus dem Leben gerissen« , stand im unteren Textteil der Anzeige. Eine Floskel, die sich verdächtig nach Herzversagen anhörte. »Es trauern Edgar Rosen und seine Tochter Luise Bodenstedt.« Marthas Familie hatte sie niemals kennengelernt.
Fátima de Zosa blickte aus dem Fenster in den grauen wolkenverhangenen Himmel. Auch wenn sie in den letzten Jahren so gut wie nichts mit ihrer Freundin zu tun gehabt hatte, wäre sie doch gern zur ihrer Beerdigung gegangen. Immerhin waren sie Profiteure desselben Glücksfalls. Durch eigene Bestrebungen wären sie niemals in den Genuss eines solchen Privilegs gekommen. Weder auf üblichem Weg noch mit Hilfe einer Agentur oder Kontaktanzeige. Wer interessierte sich schon für Frauen wie sie? Fátima de Zosa stieÃ
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