Die Stunde des Löwen
maÃvollem Abstand.
Als der Zug vom Lebensbaumweg auf einen kleineren Weg abbog, sah er, dass sich Rosen bei der jungen blonden Frau untergehakt hatte. Dem Alter nach konnte sie seine Tochter sein.
Wer da zu Grabe getragen wurde, vermochte er nicht zu sagen. Doch intuitiv tippte er, dass es sich um Rosens Ehefrau oder Lebenspartnerin handelte. Die Frau, von der der Konzertmanager sich vor Tagen an der Haustür mit einem Kuss verabschiedet hatte. Sie befand sich nicht unter den Anwesenden, und Rosens trauervolle Miene gab Anlass zur Vermutung, dass die oder der Verstorbene ihm sehr nahegestanden hatte.
Am östlichen Rand des Gewanns G hielt die Prozession vor einer ausgehobenen Grabstätte. Fremden bezog einen Beobachtungsposten am Birkenwäldchen im Schatten eines Sandsteindenkmals. Vor hier aus hatte er das Geschehen im Blick, ohne selbst gesehen zu werden.
Zwei Bohlen lagen über dem Erdloch. Am Kopfende steckte ein einfaches Holzkreuz im Boden. Der Name auf dem Querbalken war aus der Entfernung nicht zu entziffern. Einige Meter vom Grab entfernt stand ein junges Paar. Ein groÃer, stämmiger Mann um die dreiÃig mit streng nach hinten gegelten Haaren, der einer jungen Frau etwas ins Ohr flüsterte. Auffällig an den beiden war ihre legere StraÃenkleidung, in der sie sich deutlich vom Rest der Trauergesellschaft abhoben.
Nachdem sich die Trauergemeinde vor dem Grab versammelt hatte, trat der Pfarrer ans Mikrofon. Mit den Worten, Martha Rosen sei zu Lebzeiten eine warmherzige Frau gewesen, begann er seine Rede. Eine, die sich fürsorglich um ihren Mann Edgar und um ihre Tochter Luise gekümmert habe. Die Sätze, die Fremden die Bestätigung brachten, dass die Tote tatsächlich Rosens Ehefrau gewesen war, wurden mit einer kräftigen Schwade Weihrauch in seine Richtung getragen. Neugierig lieà er den Blick über die Reihen der Trauernden schweifen. AuÃer dem hinterbliebenen Ehemann kannte er niemanden. Selbst das Bestattungsunternehmen war ihm unbekannt. Die Beisetzung wurde von einem Institut aus Eschersheim durchgeführt. Den Firmennamen hatte er vorhin der Beschriftung des Leichenwagens entnommen. An Pietät Bruckner war der Auftrag offenbar vorbeigegangen.
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Ãbellaunig starrte Born auf seine neuen Schuhe. Der Schnee, der auf dem Leder pappte, würde hässliche Ränder hinterlassen. Dass es ihn heute noch auf eine Beerdigung verschlagen würde, daran hatte er beim Verlassen seiner Wohnung natürlich nicht gedacht.
Vorne am Grab nahm die Zeremonie ihren Lauf. Andächtig lauschte die Trauergemeinde den abschlieÃenden Worten des Pfarrers. Von einem warmherzigen Menschen war die Rede. Von einem, der sich stets fürsorglich um die Familie gekümmert hatte. Gelogen wurde auf Beerdigungen bekannterweise wie gedruckt. Und im Grunde war das auch okay so. SchlieÃlich war niemandem gedient, wenn beim letzten Geleit zur Sprache kam, wie es ums Zusammenleben tatsächlich bestellt gewesen war. Oder â wie im Fall Rosen â dass das Leben der Eheleute Dimensionen angenommen hatte, in denen sie anscheinend nicht einmal mehr wussten, mit welchen Freunden der Partner verkehrte.
Als Born den Kopf hob, bekam er gerade noch mit, dass Mannfeld Rosen zunickte. Halb verdeckt vom Körper des Witwers stand dessen Tochter Luise. Eine attraktive Blondine, die mit ihrem Mann in Bielefeld lebte. Auch sie hatte Selma Tassen nicht gekannt. Das hatte Mannfeld in Erfahrung gebracht, als sie am Sonntag Gelegenheit gehabt hatte, mit der Frau zu reden.
Während der Pfarrer mit salbungsvoller Stimme über Schicksalsschläge, göttliche Fügung und Gottes Willen sprach, verweilten Borns Gedanken bei Selma Tassen. Ihre Beisetzung wurde aufgeschoben, bis ihr Stiefsohn als einziger Angehöriger so weit genesen war, dass er über den Ort und die Form verfügen konnte. Ob es ihnen bis dahin gelang, die Mordfälle zu lösen, stand in den Sternen. Es existierten noch viel zu viele offene Fragen, um diesbezüglich eine halbwegs seriöse Prognose zu wagen. Beispielsweise die, was Selma Tassen in dem Hotelzimmer am Flughafen zu suchen gehabt hatte. Oder weshalb und mit welchem Ziel Martha Rosen in der Mordnacht aus dem Haus gegangen war. Welches Motiv steckte hinter den Taten? Was verband die beiden Opfer? Befand sich der Täter am Ende sogar tatsächlich hier unter den Trauergästen?
Born richtete den Blick auf die
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