Die Stunde des Löwen
Sie ihn beschreiben?«
»Natürlich. Ein Schönling, der genauso aussieht wie der Professorensohn aus der âºSchwarzwaldklinikâ¹.«
»Und ich dachte«, sagte er im Glauben, die Alte bei einer Lüge ertappt zu haben, »Sie hätten ihn nur von Weitem gesehen.«
»Sie glauben mir nicht. Aber ich habe gute Augen. Und eines Tages bin ich beim Kräutersammeln drüben am Haus vorbeigekommen. Da habe ich sie durchs Fenster an der Veranda gesehen. Da waren sie gerade dabei.«
»Bei was dabei?«, hakte er nach.
»Na, beim ⦠Herrje, Jungchen. Also, die Amelie saà aufrecht auf dem Sofa. Den Rock bis über die Hüfte hochgeschoben. Und der Schönling hat vor ihr gekniet und seinen Kopf zwischen ihren Beinen gehabt.«
»Wollen Sie damit etwa behaupten, die beiden hätten â¦Â«
»Genau das will ich. Amelie hat dabei mit halb offenem Mund an die Decke gesehen. Bis er die Position gewechselt und sie richtig rangenommen hat, heiÃt das. Ich bin dann weitergegangen.«
Die Information musste er erst einmal ein wenig sacken lassen.
»Frau Kaczorowski, wo bitte schön finde ich denn bei Ihnen die Toilette?«
»Im Flur ist es die erste Tür rechts.«
Zwei der vier Glühbirnen in der Deckenlampe des kleinen Badezimmers waren defekt. Doch trotz der diffusen Lichtverhältnisse bemerkte er sofort die dicke Schicht Urinstein, die sich am Innenrand der Toilettenschüssel festgesetzt hatte. Er versuchte, sich beim Pinkeln von den hygienischen Unzulänglichkeiten abzulenken, indem er sich fragte, ob die Story stimmen konnte, die ihm Vera Kaczorowski da aufgetischt hatte. Ob sie Amelie Bruckner tatsächlich heimlich beim Oralsex beobachtet hatte. Sein Gefühl sagte ihm nach wie vor, dass sich die allein im Wald lebende Alte nur wichtigmachen wollte. Dass sie Spaà dabei empfand, dick aufzutragen. Hätte er nicht die Flucht zur Toilette angetreten, hätte sie ihm sicher noch weitere unappetitliche Details erzählt. Aber selbst wenn Amelie Bruckner sich kurz nach dem Tod ihres Mannes mit einem anderen Mann vergnügt hatte, bedeutete das nicht, dass dies auch eine Relevanz für seine Ermittlungen haben musste. Vielleicht hatte sich die alte Dame ja einfach nur den Luxus eines Callboys geleistet.
Als er das Bad verlieÃ, streifte sein Blick im Flur ein Wandregal. Auf dem obersten Boden standen nebeneinander vier Matrjoschka-Puppen, die nicht wie üblich aus Holz, sondern aus Porzellan gefertigt waren. Ohne nachzudenken, nahm er eine aus dem Regal und drehte sie in seiner Hand hin und her. Die rot-blau-gelb gemusterte Puppe weckte eine vage Erinnerung in ihm. Wahrscheinlich hatte er schon einmal eine Matrjoschka mit ähnlichem Muster gesehen. Ihm wollte allerdings nicht einfallen, wo das gewesen sein könnte.
An der Tür zu seinem Ein-Zimmer-Apartment musste er mehrmals laut gähnen. Die Rückfahrt über die überfüllte A 3 hatte ihn müde und mürbegemacht. Nur wenige Kilometer vor dem Offenbacher Kreuz war er in einen Stau geraten, und ständig hatte in ihm Vera Kaczorowskis Vorwurf widergehallt, dass er ein undankbarer und unhöflicher Hallodri sei, weil er sich sofort nach der Rückkehr von der Toilette von ihr verabschiedet hatte.
Den restlichen Abend würde er es sich gemütlich machen. Sein bescheidener Plan bestand darin, sich mit ein, zwei Kaltgetränken aufs Sofa zu lümmeln, durch die Programme zu zappen und auf Rosens Anruf zu warten.
Als er die Wohnungstür öffnete, registrierten seine Chemosensoren schon das zweite Mal an diesem Tag einen penetranten Essensgeruch. Nur wusste er diesmal sofort, woher er rührte. Vor seinem Aufbruch hatte er es versäumt, den Rest der »Acht Schätze« zu entsorgen. Angewidert stopfte er die mit dunkler SoÃe verkrustete Aluschale in eine Plastiktüte. Mit dem Abfall in der Hand stieg er die Treppe hinab. Dabei dachte er an Liliana Bode, die bislang auf keinen seiner Anrufe reagiert hatte.
Spuren von Katzenpfoten zeichneten sich auf der mit einer dünnen Schneeschicht bedeckten Altpapiertonne ab. Als er den Deckel aufklappte, um sich des Speisekarten-Flyers zu entledigen, fiel sein Blick auf eine Zeitungsseite, die an der Innenwand der Tonne klebte. Mit einem Mal war seine volle Aufmerksamkeit entfesselt. Vorsichtig zog er den feuchten Papierbogen vom Plastik und begann, den schon mehrere Tage alten Artikel zu
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