Die Stunde des Löwen
Tagesdecke auf dem Kingsize-Bett harmonierte farblich perfekt mit dem Kastanienbraun der Schals an den Fenstern. Der Boden war mit einem flauschigen milchkaffeefarbenen Teppich ausgelegt, der so sauber und neu aussah, dass Fremden einen Moment lang sogar mit dem Gedanken spielte, sich die Schuhe von den FüÃen zu streifen. Neben dem Bett befand sich ein Nachttisch, dessen Schubladen abgesehen von einer Taschenbuchausgabe des Ãko-Thrillers »Der Schwarm« leer waren. In der linken hinteren Zimmerecke führte eine schmale, türlose Wandöffnung in einen begehbaren Schrank. Nur noch wenige Kleidungsstücke hingen auf den Bügeln. Den GroÃteil der Garderobe hatte Bruckner bereits einer Organisation gespendet, die sich um das Wohl von Obdachlosen kümmerte.
Ein wenig enttäuscht, dass die Inspektion des Schlafzimmers nicht den erhofften Hinweis gebracht hatte, begab sich Fremden über den Hof zu dem allein stehenden Häuschen mit dem Atelier. Er betrat einen lichtdurchfluteten, nahezu quadratisch geschnittenen Raum, dessen einzige unverglaste Wand in Richtung StraÃe wies. Davor standen ein antiker Bauernschrank aus Weichholz und eine Pritsche, die mit festem natogrünem Stoff bezogen war. Neugierig öffnete er die Flügel der Schranktür. Doch auf den Einlegeböden reihten sich ausschlieÃlich Bände über Maltechniken und Theoretisches über Epochen und Stile aneinander.
In der Mitte des Ateliers befand sich unweit der Staffelei ein uriger gusseiserner Ofen mit gewundenem Abzugrohr, das in der weià verputzten Decke verschwand. Vom Ofen aus waren es nur wenige Schritte bis zu einem langen Holztisch. Während auf der linken Hälfte der Tischplatte eine chromblitzende Kaffeemaschine thronte, war die rechte unter einem heillosen Durcheinander aus Papierrollen, Blöcken, Fläschchen, Pinseln, Lappen, Spachteln, Grundierungen, Farbtuben, Pasten, Kreiden und Malstiften begraben. Zwischen den Tischbeinen lagerte eine Reihe von Keilrahmen mit Werken der Künstlerin.
Fremden besah sich die Leinwände, auf denen sich Amelie Bruckner mit Landschaftsmalerei auseinandergesetzt hatte. Als er sich nach einer Weile wieder von den Gemälden abwandte, lieà er den Blick durch den Raum schweifen. Die Art und Weise, wie das Atelier eingerichtet war, und dass es anscheinend an nichts fehlte, was das Künstlerherz begehrte, verströmte mehr als bloà einen Hauch von Dekadenz. Nur zu gut konnte er sich vorstellen, wie Amelie Bruckner in farbverschmierten Designerjeans, die Haare zu einem schlampigen Knoten hochgesteckt, den Pinsel schwang. Eine Grande Dame der Upperclass, die es sich erlauben konnte, im Ãberfluss und Reichtum zu schwelgen, weil ihr Mann osteuropäische Frauen in hiesige Bordelle verhökerte.
Da auch im oberen Geschoss, das offenbar nur als Abstellraum diente, kein Hinweis auf die Identität des vermeintlichen Liebhabers zu finden war, lieà er sich frustriert auf der Pritsche nieder. Nun war es wirklich an der Zeit, Klaus Bruckner zu gestehen, dass er keine Möglichkeit mehr sah, den Tod seines Vaters aufzuklären. Dass ein Mord aufgrund der Indizienlage zwar nicht auszuschlieÃen war, er aber nicht in Erfahrung bringen konnte, wer als Täter in Frage kam.
Einen tiefen Seufzer ausstoÃend, stemmte er sich von der Pritsche hoch. Dabei fiel sein Blick auf die Seitenwand des Bauernschranks. Er hielt abrupt in der Bewegung inne. Aus dem Spalt zwischen der Rückwand des Möbelstücks und der verputzten Mauer lugte die Ecke eines schwarzen Kartons hervor. Neugierig zog er daran und war fast ein bisschen enttäuscht, als sich herausstellte, dass es nur eine Zeichnungsmappe war. Nachdem er eine dünne Schicht Staub vom Deckel geblasen hatte, legte er die Mappe auf die Pritsche und löste das Verschlussband.
Wie nicht anders zu erwarten gewesen war, enthielt der Karton weitere Werke der Künstlerin. Zuoberst lagen kitschige Aquarelle mit Toskana-Flair: sanft geschwungene Hügel im Abendlicht, Zypressen, knorrige Olivenbäume, ein rustikales Bauernhaus am Rande eines Dorfes und die zahlreichen Türme von San Gimignano aus der Ferne.
Fremden nahm die Aquarelle aus der Mappe und legte sie beiseite. Als Nächstes folgten Kohlezeichnungen â Studien von Gegenständen des alltäglichen Gebrauchs: ein Hammer, eine Kaffeekanne, ein Weinglas, ein Reifen und eine Uhr, deren Zeiger auf kurz vor drei
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