Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Stunde des Löwen

Die Stunde des Löwen

Titel: Die Stunde des Löwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Köhl
Vom Netzwerk:
standen.
    Während er noch überlegte, ob es nötig war, den gesamten Fundus an Bruckner’scher Kunst zu sichten, glitt ihm die Mappe von der Pritsche und landete mit einem lauten Klatschen auf dem Boden. Beim Einsammeln der herausgerutschten Bilder entdeckte er eine Zeichnung, die sein Interesse weckte. Es war die Skizze eines muskulösen Männertorsos. Gespannt, ob noch ähnliche Werke auftauchten, kramte er in den verstreuten Bögen. Und tatsächlich, verdeckt von einigen Landschaftsaquarellen, stieß er auf zwei Kohleskizzen von menschlichen Geschlechtsteilen. Im Vergleich zu dem Männerrumpf hatten diese Darstellungen eindeutig perversen Charakter. Das erste, mit dem Titel »Hungrige Muschi« versehene Bild zeigte eine glatt rasierte Vagina, in die eine Kompanie Strichmännchen einmarschierte. Die zweite Zeichnung trug keinen Titel. In wilder Strichführung war darauf ein erigiertes Glied zu sehen, über das ein nietenbesetztes Zaumzeug gezogen war.
    Die Skizzen im Blick, ließ sich Fremden auf der Pritsche nieder. Etwas derart Radikales hätte er Amelie Bruckner gar nicht zugetraut. Doch dass sie die Urheberin der Werke war, davon zeugten die Signaturen an den unteren Bildrändern. Vielleicht zeigten der Akt und die Skizze mit dem zaumzeugbesetzten Penis ja Körperpartien des unbekannten jungen Mannes. Doch stellte man so jemanden dar, dem man nahestand?
    Â»Hungrige Muschi«, knurrte Fremden leise und griff nach besagtem Bild. Als er den Bogen umdrehte, entdeckte er zu seiner Überraschung einen handschriftlichen Vermerk. »Kamera aus Ferienhaus verschwunden. Drama! Verlust bemerkt am 21.   11.   11« , stand dort geschrieben. Eine Notiz, die von Amelie Bruckner offenbar nur wenige Wochen vor ihrem Tod verfasst worden war und gleich eine ganze Reihe von Fragen aufwarf: Erstens, weshalb das Verschwinden einer Kamera für eine wohlhabende Frau dramatisch war. Zweitens, weshalb der Verlust ausgerechnet auf jenem Bild vermerkt worden war. Und drittens, was Amelie Bruckner so kurz vor ihrem Tod veranlasst hatte, in das Ferienhaus nach Kahl zu fahren. Ihrem Sohn schien sie davon nichts erzählt zu haben, sonst hätte dieser nicht behauptet, dass von der Familie schon ewig niemand mehr am See gewesen sei.
    Â»Und? Etwas Interessantes gefunden?«
    Fremden hatte gar nicht bemerkt, dass Klaus Bruckner das Atelier betreten hatte. So unauffällig wie möglich schob er die pornografischen Zeichnungen unter die Toskana-Aquarelle.
    Â»Wie man’s nimmt.«
    Â»Wie man’s nimmt«, wiederholte Bruckner und trat lächelnd zu ihm an die Pritsche. »Wie ich sehe, betrachten Sie gerade Mutters Arbeiten. Die sind gar nicht so übel für eine Hobbykünstlerin. Darf ich nun wissen, was Sie gefunden haben?«
    Â»Ich, äh … ja, im Grunde habe ich einfach nur einen besseren Einblick in den Lebensstil Ihrer Mutter bekommen.«
    Beide Hände auf den Gehstock gestützt, musterte ihn Bruckner mit ernster Miene. »Und das ist alles?«
    Â»Beinahe.«
    Â»Kommen Sie, Herr Fremden, nun lassen Sie sich doch bitte nicht jede Information einzeln aus der Nase ziehen.«
    Â»Okay, ich bin da auf eine Notiz gestoßen. Die scheint mir interessant zu sein. In der beklagt Ihre Mutter den Verlust einer Kamera.«
    Â»Was ist denn an solch einer Notiz interessant?«
    Â»Dass die Kamera aus Ihrem Ferienhaus in Kahl verschwunden ist. Und dass Ihre Mutter den Verlust letztes Jahr im November bemerkt hat. Also nur wenige Wochen bevor sie starb.«
    Bruckner kratzte sich an der Schläfe und blickte ihn fragend an. »Das würde ja bedeuten, dass Mutter noch mal im Ferienhaus war.«
    Fremden nickte.
    Â»Im November war sie aber durch die Krankheit schon sehr geschwächt. Wie hätte sie nach Kahl kommen sollen? Und was hätte sie dort gewollt?«
    Â»Eigentlich hoffte ich, das von Ihnen zu erfahren. Vielleicht hat Ihre Mutter dort gezielt die Kamera holen wollen.«
    Â»Mal angenommen, sie ist wirklich ins Ferienhaus gefahren, dann muss sie ein Taxi genommen haben. Warten Sie …« Bruckner verstummte. »Ich erinnere mich tatsächlich an einen Tag, an dem sich Mutter ein Taxi bestellte. Mir erzählte sie, dass sie ihre Freundin in Oberursel besuchen wollte. Wo … wo haben Sie denn diese Notiz gefunden?«
    Â»Auf der Rückseite einer Zeichnung.«
    Â»Die würde ich mir gern mal

Weitere Kostenlose Bücher