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Die Stunde des Löwen

Die Stunde des Löwen

Titel: Die Stunde des Löwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Köhl
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Amelie Bruckner, Selma Tassen, Martha Rosen und Fátima de Zosa. Die vier verstanden sich prächtig. Oft sind sie nach der Stunde noch gemeinsam etwas trinken gegangen.«
    Â»Und wie erreichen wir Amelie Bruckner?«, erkundigte sich Mannfeld.
    Â»Da werden Sie leider kein Glück mehr haben. Vor einigen Wochen las ich in der Zeitung Amelie Bruckners Todesanzeige. Ihr Sohn, ein Bestatter aus dem Bahnhofsviertel, hat sie aufgegeben. Nach langer, schwerer Krankheit, hat er geschrieben, sei seine Mutter gestorben.«
    Mannfeld warf Born einen kurzen Blick zu. Schwer einzuschätzen, ob er Ähnliches dachte wie sie: wie merkwürdig es doch war, dass alle vier Teilnehmerinnen des Malkurses mittlerweile tot waren. Die erste starb nach langer, schwerer Krankheit, und nur wenige Wochen darauf wurden die anderen drei ermordet. Das wirkte beinahe so, als könnte Amelie Bruckners Tod der Auslöser für die Morde gewesen sein.
    * * *
    Um ein Haar hätte er in der einsetzenden Dämmerung den dunkelblauen Golf übersehen, der neben dem Hexenhäuschen parkte. Von den Bäumen gefallener Schnee bedeckte Kühlerhaube und Frontscheibe des Wagens. Zwischen zwei Buchenstämmen blieb Fremden stehen. Nun, da ihn nur noch etwa zehn Meter von seinem Ziel trennten, stellte er fest, dass Vera Kaczorowski Besuch erhalten hatte. Wahrscheinlich irgendeinen bedauernswerten Tropf, den sie mit ihren fadenscheinigen Naturprodukten verköstigen konnte. Mit dem sie Kohlsuppe löffelnd oder Wurzelgebräu schlürfend am Tisch hockte und anscheinend doch nicht so einsam war, wie er bislang vermutet hatte.
    Mit zusammengekniffenen Lidern spähte er auf das Heck des Fahrzeugs. Das Nummernschild verriet, dass es in Frankfurt zugelassen war. Ein Teekäufer aus der fernen Großstadt? Er stieß ein leises Lachen aus. Dann wurde er wieder ernst und überlegte, wie er der Situation begegnen sollte. Klingeln und unangemeldet hereinplatzen? Im Beisein eines Dritten würde er kaum die Fragen stellen können, auf die er so dringend Antworten suchte. Schon seltsam, wie das Leben manchmal spielte. Bei seinem letzten Besuch hatte er nicht schnell genug Reißaus nehmen können, obwohl Vera Kaczorowski ihm fast schon flehend hinterhergerufen hatte, sie habe noch Wichtiges über ihre Nachbarin und diesen Mann zu berichten. Und nun war er zurückgekehrt, weil er – motiviert durch Rosens Aussage und den Fund der perversen Bilder – nicht mehr länger davon ausging, dass Vera Kaczorowski phantasierte. Womöglich konnte sie tatsächlich einen Hinweis auf die Identität des jungen Mannes geben oder wusste sogar, ob er etwas mit Hugo Bruckners Tod zu tun hatte. Und ausgerechnet jetzt musste sie Besuch haben.
    Noch während er damit haderte, sein Kommen nicht wenigstens telefonisch angekündigt zu haben, weckte das Geräusch einer sich öffnenden Tür seine Aufmerksamkeit. Reflexartig ging er hinter einem der Buchenstämme in Deckung. Eine kleine, in eine dicke Daunenjacke eingehüllte Person kam aus dem Haus. Mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze lief sie auf den Golf zu.
    Manches Problem, dachte Fremden, löst sich zum Glück von ganz allein.
    Kurz bevor der scheidende Gast den Wagen erreicht hatte, drehte er sich noch einmal um und machte wieder einige Schritte auf das Haus zu. Als er nach einem an der Wand lehnenden Besen griff, gelang es Fremden, einen Blick auf das Gesicht des Daunenjackenmenschen zu erhaschen. Beinahe hätte er laut aufgeschrien, als er erkannte, wer da im Halbdunkeln zu dem Golf zurückkehrte. Es war Liliana Bode, die in aller Seelenruhe mit dem Besen die Frontscheibe vom Schnee befreite, einstieg, den Motor startete und durch den Wald davonfuhr.
    Fremden hatte keine Ahnung, wie lange er nun schon hinter dem Buchenstamm verharrte. Waren es nur Minuten, oder handelte es sich schon um eine halbe Stunde? Gefangen in einer Art geistiger Schockstarre, hatte er nichts von dem mitbekommen, was um ihn herum geschah. Im oberen Stock des Hexenhäuschens brannte mittlerweile Licht. Der Wind hatte aufgefrischt. Hoch über seinem Kopf knarrten die Baumkronen, und pulvriger Schnee rieselte auf seine Schultern und sein Haupt. Jetzt spürte er auch wieder die Kälte, die ihm unbarmherzig durch die Sohlen in den Körper kroch. Dennoch brachte er es nicht fertig, sich einen Ruck zu geben und auch nur einen einzigen Schritt auf das Haus zuzumachen.

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