Die Stunde des Löwen
Oder hatte sie die lange Fahrt auf sich genommen, um die Kamera zu holen? Möglich auch, dass sie aus reiner Nostalgie an diesen Ort zurückgekehrt war. Intuitiv glaubte er, dass es mit der Kamera zusammenhing. Falls dem so war, erklärte das aber nicht, warum die sterbenskranke und wohlhabende Frau den Aufwand betrieb, wegen einer Kamera, die wahrscheinlich nur ein paar hundert Euro kostete, so weit zu fahren und den Verlust derselben später als Drama zu bezeichnen.
Vor dem Korbstuhl blieb Fremden abrupt stehen. Auf einmal dämmerte ihm, dass es Amelie Bruckner möglicherweise gar nicht um den materiellen Wert der Kamera gegangen war, sondern vielleicht um Bilder oder Filme, die auf ihr gespeichert waren.
Als er wieder im Hexenhäuschen eintraf, stellte Liliana Bode gerade eine Kanne frisch gebrühten Tee auf den Tisch. Ob sie ihm auch eine Tasse einschenken dürfe? Er lehnte dankend ab und bat, die Toilette benutzen zu dürfen.
Beim Verlassen des Bads streifte sein Blick wie schon bei seinem letzten Besuch das Wandregal mit den vier Matrjoschka-Puppen. Nur erregten sie diesmal auf Anhieb seine volle Aufmerksamkeit. Die Augen weit aufgerissen, stand er da und starrte auf die Porzellanfiguren. Die mittlere der nach der GröÃe geordneten Puppen schien zu fehlen. Doch das war es nicht, was ihn in Erstaunen versetzte, sondern vielmehr der Umstand, dass die Figuren exakt das gleiche Muster hatten wie die Scherben auf dem Boden im Ferienhaus der Bruckners.
»Na, haben Sie den Schlüssel an der Veranda gleich gefunden?«, fragte Vera Kaczorowski, nachdem er in die Stube zurückgekehrt war. Sie langte nach ihrer Teetasse und nahm laut schlürfend einen Schluck des heiÃen Gebräus.
»Ja, habe ich. Ich habe aber das Gefühl, dass nicht nur der junge Mann von dem Schlüssel Gebrauch gemacht hat.«
Die beiden Frauen wechselten irritierte Blicke.
»Was meinst du mit âºnicht nur der junge Mannâ¹?« Liliana Bode lächelte ihn unsicher an.
»Das kann uns vielleicht am besten deine Tante erklären.«
»Ich?«, fragte Vera Kaczorowski und fuhr sich mit der Hand über ihren fettigen Haarknoten.
»Die Puppen auf dem Regal im Flur, woher haben Sie die?«
»Vom Flohmarkt«, entgegnete Vera Kaczorowski und untermalte ihre Antwort durch mehrmaliges Nicken.
»So, vom Flohmarkt. Im Ferienhaus gibt es auch eine Matrjoschka-Puppe. Sie liegt in Scherben auf dem Boden. Aus Porzellan sind die Figuren äuÃerst selten. Ãblicherweise werden sie aus Holz gefertigt. Das Muster auf den Scherben ist identisch mit dem auf Ihren Puppen.«
»Na und?« Vera Kaczorowski blickte ihn schulterzuckend an.
»Das deutet darauf hin, dass sie zusammengehören. Oder wollen Sie mir jetzt erzählen, dass Sie mit Amelie Bruckner auf dem Flohmarkt waren und sie beide einen identischen Satz Puppen gekauft haben?«
»Warum nicht?«, antwortete Vera Kaczorowski und lächelte verschmitzt.
»Tante Vera, nun mal im Ernst: Woher hast du die Dinger?«
Einige Sekunden lang sagte niemand etwas.
»Frau Kaczorowski, auf dem Regal im Flur stehen vier Puppen. Soweit mir bekannt ist, besteht ein Satz normalerweise entweder aus drei, fünf, sieben oder zehn Puppen. Demnach fehlt Ihnen mindestens eine. Und die liegt in Scherben im Ferienhaus auf dem Boden.«
»Die muss Amelie mir gestohlen haben.«
Die Antwort war so absurd, dass Fremden lachen musste.
»Umgedreht wird ein Schuh draus. Sie wussten, wie man ins Haus kam. Und als die Bruckners dort nicht mehr auftauchten, nutzten Sie die Gelegenheit, sich im Inneren mal ein bisschen umzusehen.«
»Wollt ihr jungen Leute jetzt nicht lieber gehen? Ihr habt doch bestimmt auch noch was Besseres zu tun, als mit einer alten Frau in der Stube zu hocken.«
Fremden registrierte aus den Augenwinkeln, dass Liliana Bode die Röte ins Gesicht stieg.
»Stimmt das, Tante Vera? Und drucks jetzt bitte nicht rum. Bist du in das Ferienhaus eingebrochen?«
»Eingebrochen, wie klingt denn das?«, fragte Vera Kaczorowski in entrüstetem Tonfall und rieb mit dem Ãrmel ihres Strickpullovers einen Tropfen Tee von der Tischplatte. »Zwei- oder dreimal hab ich mir Sachen geliehen. Mehr nicht.«
»Was für Sachen?«, hakte Fremden nach.
»Zeug aus der Küche. Nudeln, Mehl, Konserven. Was nicht so auffällt, wennâs weg ist. Mit meiner kleine Rente muss ich jeden Groschen
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