Die Stunde des Löwen
Position ging sein Blick aus dem Fenster. Die Haflinger standen bereits wieder auf der Koppel. Es war ein friedliches Bild, das sich ihm da bot. Ebenso die Ansicht des sonnenbeschienenen, mit einer unberührten Schneeschicht bedeckten Gartens. Kaum vorstellbar, dass er in dieser Idylle vor eineinhalb Wochen brutal überfallen worden war.
Während er nach der über der Stuhllehne hängenden Jeans langte, drang aus dem Erdgeschoss ein leises Husten zu ihm ins Schlafzimmer. Wie erstarrt hielt er in der Bewegung inne. Als er begriff, wer im Erdgeschoss herumgeisterte, durchlief ihn ein heiÃes Kribbeln. Wie hatte er das nur eine einzige Sekunde lang vergessen können? Dass sie mitgekommen war. Dass sie ihm â als sei es das Selbstverständlichste der Welt â vor dem Haus ihrer Tante mitgeteilt hatte, ihn nach Bad König zu begleiten. Nach all der Aufregung brannte sie ebenso wie er darauf, zu erfahren, ob sich brisantes Datenmaterial auf der Kamera befand. Selbst sein Argument, dass das Laden des Akkus mehrere Stunden dauern könne, hatte sie nicht von ihrem Entschluss abgebracht. Zur Not gebe es in dem groÃen Haus doch bestimmt ein Gästezimmer. Und dann waren sie tatsächlich im Konvoi nach Bad König gefahren. Nachdem er den Akku an das Ladegerät seines Onkels angeschlossen hatte, rollte er auf der Couch den Schlafsack für sie aus. Ob sie bei ihm im Schlafzimmer übernachten wolle, hatte er sich nicht zu fragen getraut. Stundenlang fand er keinen Schlaf und zermarterte sich sein Hirn mit dem Gedanken, ob er nicht zu ihr nach unten gehen sollte. Ob sie das nicht doch insgeheim erwartete. Die Dielen hatten geknarrt, als er auf Zehenspitzen aus dem Schlafzimmer geschlichen war. Auf halbem Weg zur Treppe verlieà ihn der Mut. Irgendwann war er dann doch eingeschlafen und hatte von Felix geträumt.
»Na, gut geschlafen?«
»Geht so«, antwortete Liliana Bode, die in der Küche die Kaffeemaschine befüllte. Nachdem das Wasser durch den Filter gelaufen war, begaben sie sich mit ihren Kaffeetassen ins Wohnzimmer. Während Fremden schweigend den Akku in die Kamera einsetzte, bemerkte er, dass der Schlafsack schon zum Auslüften auf der Terrasse hing.
Am liebsten hätte er einen Jubelschrei ausgestoÃen, als nach dem Einschalten der Kamera das Objektiv unter leisem Summen ausfuhr und sich das Display erhellte. Erstes Indiz, dass das Gerät noch funktionierte. Fotos befanden sich keine auf der Speicherkarte, dafür aber ein Video. Gespannt drückte er den Wiedergabeknopf.
In den ersten Sekunden wackelte die Aufnahme ein wenig. Dann wurde das Bild ruhiger. Auf dem Bootssteg des Ferienhauses standen zwei Männer. In dem älteren, der Ãhnlichkeit mit Mario Adorf hatte, erkannte er Hugo Bruckner. Der Blonde war wesentlich jünger und nur im Profil zu sehen. Bei einem kleinen Kameraschwenk tauchte am rechten Bildausschnitt der Strandkorb auf. Die Abendsonne stand bereits tief über dem See und blendete ein bisschen. Die Szene mochte im Spätsommer oder Herbst aufgenommen worden sein. Darauf deutete auch die Kleidung der Männer hin. Der jüngere trug einen leichten Strickpulli, dessen Ãrmel bis zu den Ellbogen hochgeschoben waren, Bruckner eine blaue Seglerjacke. Mit ausgestrecktem Arm hielt er dem blonden Mann etwas entgegen. Was, war nicht zu erkennen. Ein, zwei Sekunden lang schien das Bild zu erstarren. Dann hob der jüngere wie zur Entschuldigung beide Arme und machte ein paar Schritte auf Bruckner zu. Wer daraufhin wen zuerst berührte, war aus der Kameraperspektive nicht zu sehen. Im folgenden Gerangel erhielt Bruckner einen Stoà vor die Brust. Während er noch mit rudernden Armen versuchte, das Gleichgewicht zu halten, verloren seine FüÃe bereits den Halt. Nachdem er in den See gestürzt war, ging der Blick auf den FuÃboden, und einige Sekunden lang waren im Display nur der Dielenboden des Ferienhauses und ein nacktes Frauenbein zu sehen. Dann erfolgte ein Schnitt, und der Bootssteg war wieder im Bild. Der junge Mann stand jetzt allein auf den Planken. In der rechten Hand hielt er eine lange Holzstange, mit der er Bruckner unter Wasser drückte. Als der nach quälend langen Minuten nicht mehr auftauchte, brach die Aufnahme ab.
»Nun haben wir den Beweis, dass es tatsächlich Mord gewesen ist«, sagte Liliana Bode leise und stellte ihre Kaffeetasse neben die Kamera auf das Nierentischchen.
»Ja,
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