Die Stunde des Löwen
geringste Lust verspürt, sich von jemandem den Hof machen zu lassen.
Sie klang aufgekratzt, als sie sich meldete. »Gerade eben ⦠gerade eben war der Mann im Ferienhaus.«
Fremden hatte keine Ahnung, wen Liliana Bode meinte. Intuitiv dachte er an Varujan. Doch welchen Grund sollte Rosen haben, ihn dorthin zu schicken?
»Von welchem Mann sprichst du?«
»Na, von dem, den Tante Vera damals durchs Fenster gesehen hat.«
»Und wen bitte hat sie damals durchs Fenster gesehen?«
»Stehst du jetzt auf der Leitung, oder was? Den Typ, mit dem die Bruckner es getrieben hat natürlich.«
Er brauchte einige Sekunden, um die Tragweite dieser Nachricht zu begreifen.
»Glaubst du, deine Tante phantasiert?«
»Nur weil sie sich ab und zu merkwürdig ausdrückt?«
»Nein. Ich frage mich nur, warum sie dich und nicht mich angerufen hat.«
»Weil du neulich so schnell abgehauen bist und sie deshalb annimmt, dass du ihr eh nicht glaubst.«
Vera Kaczorowski hockte, den Oberkörper leicht nach vorne gebeugt, auf dem Schemel und nippte an einem kelchförmigen Glas. Als sie das Gefäà auf dem Tisch abstellte, schwappte die weizengelbe Flüssigkeit darin hin und her.
»Nun erzähl uns doch bitte mal in aller Ruhe, was vorhin geschehen ist.« Liliana Bode strich ihrer Tante sanft über den Unterarm und lächelte sie ermunternd an.
»Liebes, ich war gerade dabei, mir die Zähne â« Vera Kaczorowski stockte einen Moment und warf Fremden einen unsicheren Blick zu. »Also, ich hab gerade mein Gebiss rausgenommen, als ich durchs Fenster dieses Licht sah. Eine Taschenlampe, die drüben durchs Haus spukte.«
»Und was haben Sie da gemacht?«, fragte Fremden und rutschte mit seinem Hintern ein Stückchen weiter in Richtung Stuhlkante.
»Mich erschrocken. Und Angst bekommen.«
»Sind Sie gleich aus dem Haus gelaufen?«
»Nein«, antwortete Vera Kaczorowski und lächelte fast ein wenig verschämt. »Ich hab mir natürlich noch was übergezogen und das Licht gelöscht. Dann erst bin ich aus dem Haus, um mich zu verstecken.«
»Warum sind Sie überhaupt zum Haus der Bruckners gegangen?«
»Irgendwas musste ich doch tun. Wollt ja nicht erfrieren. AuÃerdem bin ich nicht gegangen, sondern geschlichen.«
»Und dann haben Sie den Mann gesehen?«
»Ja, der stand ganz dicht am Fenster.«
»Sind Sie sicher, dass das der Mann war, mit dem sich Amelie Bruckner getroffen hat?«
»Ich bin zwar alt, aber nicht blind. Es war der Schönling, mit dem sie geschnackselt hat«, sagte Vera Kaczorowski und stieà ein heiseres Lachen aus.
»Und der Mann? Was ist jetzt mit ihm? Ist er fort?«
Vera Kaczorowski nickte.
»Wie ist er ins Haus gekommen? Hat er die Tür aufgebrochen, oder ist er durchs Fenster gestiegen?«
»Nein, mit dem Schlüssel, glaub ich.«
»Mit einem Schlüssel«, wiederholte Fremden.
»Ja«, antwortete Vera Kaczorowski, »mit dem, der immer am Pfosten der Veranda hängt.«
Mit der Taschenlampe aus seinem Kofferraum machte er sich auf den Weg zum Ferienhaus. Tante und Nichte hatte er in der warmen Stube zurückgelassen. Im Wald herrschte gespenstische Stille. Eine Stille, die nur hin und wieder durch den Schrei eines Nachtvogels und das Knirschen seiner Schritte auf dem Schnee durchbrochen wurde. Der Schlüssel zur Eingangstür hing tatsächlich an dem von Vera Kaczorowski beschriebenen Verandapfosten.
Nachdem er das modrig riechende Haus betreten hatte, lieà er sich auf der Hollywoodschaukel nieder. Was mochte den Unbekannten an diesen verlassenen Ort getrieben haben? Neugierig blickte er sich um. Im Schein der Taschenlampe wirkte alles viel gröÃer als am Tage.
Ein plötzliches Rascheln rechts von ihm lieà ihn zusammenzucken. Wahrscheinlich nur eine Maus oder Ratte, die durch das herumliegende Laub huschte. Doch als er den Lichtkegel auf die betroffene Stelle richtete, entdeckte er nur Unmengen von Blättern und einige verstreute bunte Scherben. Das Muster des Porzellans weckte in ihm eine vage Erinnerung. Nur wusste er nicht, welche. Seufzend erhob er sich und ging einige Schritte im Zimmer auf und ab. Dabei dachte er ein weiteres Mal an Amelie Bruckner und was sie dazu bewogen haben könnte, sich an jenem Novembertag mit dem Taxi an den See chauffieren zu lassen. Ein letztes Treffen mit ihrem jungen Liebhaber?
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