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Die Stunde des Raben

Die Stunde des Raben

Titel: Die Stunde des Raben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Pfeiffer
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antwortete Aili. »Dies ist der Stab des Druiden, der uns gedient hat, unsere Mutter zu finden!«
    Sie hob den Stab mit beiden Händen in die Höhe.
    »Myrddin!«, rief sie. »Die Königin lebt! Und dies bleibt das Geheimnis der Britannier in dieser Stadt!«
    In diesem Moment war ein Flattern zu hören, und dann kam mit schnellem Flügelschlag plötzlich ein weißer Rabe durch eines der schmalen Fenster in die Hütte geflogen. Er beschrieb einen Kreis über den Köpfen der vier Icener und landete auf dem hoch erhobenen Holzstab.
    Tyrai ließ die Axt sinken.
    Die Königin blickte den Vogel an und erhob sich von ihrem Lager.
    »Weißer Rabe«, sagte sie. »Was ist dein Zeichen?«
    Wieder veränderte sich die Flut.
     
    Die Lehrlinge standen in der Hütte. Auf dem Tisch, den Tyrai gebaut hatte, lagen Äpfel. Fleisch briet über dem Feuer, und Aili, die einige Jahre älter geworden war und alleine in der Hütte zu sein schien, trug ein farbenfrohes Gewand. Von draußen drang Lärm hinein.
    Dann erschien ein Mann in der Tür.
    »Sacrobena Aili!« Er verneigte sich tief.
    »Du weißt, du sollst mich nicht so nennen!«, wies Aili ihn leise zurecht. »Es darf niemand je erfahren …«
    »Ich weiß!«, lächelte der Mann. »Aber es ist niemand hier, der mich hören könnte, heilige Frau und Königin Britanniens.« Er zog einen geschnitzten Raben aus hellem Holz aus dem Mantel, den er Aili reichte. »Der Schnitzer ist fertig geworden und sendet dir seine Arbeit. Er hofft, dass sie vor deinen Augen Gefallen findet.«
    Aili nahm das kleine Kunstwerk entgegen und betrachtete es ausgiebig. Der Vogel war fein gearbeitet. Sein Körper sah aus wie der eines Raben, doch er war über und über mit kreisförmigen, ineinander verschlungenen Formen bedeckt, in denen die Lehrlinge auch einen Wolf und einen Hund erkannten. Zum Schwanz hin hatte der Rabe eine Vertiefung im Bauch. Aili trat zur Wand, wo der Stab des Druiden hing. Sie nahm ihn ab und passte sein oberes Ende in die dafür vorgesehene Vertiefung ein. Dann betrachtete sie das neu entstandene Werk, das nun wie ein Zepter aussah.
    »Sag ihm, seine Arbeit ist meisterlich«, bat sie den Mann.
    Dieser nickte. »Die Figur ist aus dem Holz des Baumes, den ihr ihm genannt habt.«
    »Dann ist es gut.« Aili hielt den zepterartigen Stab in der Hand.
    »Ich habe noch eine Nachricht«, sagte der Mann. »Die Rotschöpfe durchkämmen das Viertel. Sie haben gehört, dass es eine keltische Königin in Londinium geben soll. Jetzt suchen sie nach ihr.«
    »Meine Mutter ist tot und Brae ist mit ihrem Mann fortgegangen«, sagte Aili ruhig.
    »Sie suchen sie trotzdem.« Der Mann verneigte sich tief vor Aili und eilte hinaus.
    Im selben Moment wandelte sich das Tageslicht, die Sonne stand jetzt tiefer. Aili saß auf einem Hocker vor dem Feuer und hielt den Stab in Händen.
    Kurz darauf wurden die Schritte marschierender Soldaten hörbar. Sie wurden lauter und stoppten. Dann trat ein behelmter römischer Zenturio in die Hütte.
    »Dein Name?« Forschend sah er Aili an.
    »Ich bin Aili«, antwortete die Tochter Boudiccas.
    »Wir haben gehört, dass sich hier in der Gegend eine icenische Stammesführerin verborgen gehalten haben soll. Was weißt du davon?«
    Aili erhob sich. Sie hielt den Stab fest in der einen Hand, trat an den Tisch und legte die andere Hand auf einen Apfel.
    »Ja, das sagte man. Ich habe es gehört. Aber ich habe auch gehört, dass diese Frau gestorben ist und begraben wurde.«
    »Wo?«
    Aili schüttelte den Kopf. »Willst du das Grab suchen, Rotschopf?«
    Der Soldat straffte sich. »Nicht dieses Schimpfwort, Britannierin.«
    Auch Aili richtete sich höher auf. Mit dem Stab deutete sie auf die Brust des Soldaten.
    »Ja«, sagte sie dann. »Es gibt dieses Grab. Es ist dort, wo kein Rotschopf es jemals finden kann.« Ihre Augen bohrten sich in das Gesicht des Zenturios. »Und du musst wissen: Eher werden die Rotschöpfe Britannien verlassen, als dass sie das Grab der Königin finden.«
    Der Zenturio wollte etwas erwidern. Doch dann lachte er nur grob auf und winkte verächtlich ab. »Hexen und Verrückte seid ihr alle!«
    Er drehte sich um und marschierte aus der Hütte.
    Aili sah ihm nach. Sie lauschte, wie sich die Schritte der Soldaten wieder in Bewegung setzten und allmählich leiser wurden.
    Ihr Blick fiel auf den Stab mit dem geschnitzten Raben in ihrer Hand. Sie nickte und verließ ebenfalls die Hütte.
    Die Lehrlinge folgten ihr.
    Vor ihnen schritt Aili kräftig aus. Sie stieg

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