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Die Stunde des Raben

Die Stunde des Raben

Titel: Die Stunde des Raben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Pfeiffer
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finde.«
    Rufus’ Mutter sah Coralia misstrauisch an.
    »Du machst Geschäfte mit deinem Vater?«
    »Aber natürlich«, erwiderte Coralia ruhig. »Das gehört doch dazu. Das lernen wir hier ja gerade. Deswegen bin ich auf dieser Schule. Und ohne mich hätten Sie dieses Stück nie entdeckt.«
    Rufus’ Mutter sah Coralia kühl an. »Du willst also Geld von mir?«
    Coralias Miene verriet keine Unruhe. »Ja, Frau Minkenbold! Ich denke, ein Anteil an diesem Geschäft steht mir zu. Das würde mein Vater auch sagen. Und weil er mein Vater ist, bekommt er meine Entdeckungen für 35 Prozent seines Verkaufserlöses. Sie wollen den Schwan doch auch verkaufen, oder etwa nicht?«
    Rufus’ Mutter musterte Coralia. »Also gut«, sagte sie. »40 Prozent für dich, falls der Schwan wirklich etwas wert ist!«
    Coralia nickte. »40 für mich und 60 für Sie«, sagte sie mit ernster Miene. »Aber das gilt nur dieses eine Mal.«
    Sie streckte Rufus’ Mutter die Hand hin.
    Rufus Mutter zögerte. »Meinst du etwa, es wird ein zweites Mal geben?«, fragte sie plötzlich.
    Coralia lachte. »Wer kann das schon wissen? Aber bei dem Schwan hier bin ich mir wirklich ziemlich sicher.«
    Rufus’ Mutter sah dem Lehrlingsmädchen in die Augen. In der Tiefe der Pupille schimmerte ein heller Fleck. Und in dem Moment, als sie ihn erblickte, glomm auch in den Augen von Rufus’ Mutter ein Funken auf.
    »Abgemacht«, sagte sie und diesmal schlug sie in die dargebotene Hand ein. »Ich werde das Ding in den nächsten Tagen einmal schätzen lassen.«
    »Ich bin gespannt!«, sagte Coralia. »Aber erzählen Sie bitte weder Rufus noch sonst jemand etwas davon. Die Lehrer hier sehen es nicht so gerne, wenn wir außerschulische Aktivitäten verfolgen. Sie sagen, das stört die internen Abläufe.«
    »Und damit haben sie völlig recht«, bestätigte Rufus’ Mutter. Sie sah auf ihre Uhr. »Und jetzt wird es Zeit, dass ich in die Aula gehe. Die Rede fängt bald an.«
    »Ja«, sagte Coralia. »Es hat mich sehr gefreut, Frau Minkenbold. Auf Wiedersehen.«
    Rufus’ Mutter drehte sich um und ging davon.
    Sie marschierte an den Ritterrüstungen vorbei und bog in die Eingangshalle ein. Die Aula lag direkt dahinter.
    Rufus’ Mutter blieb abrupt stehen, als sie bemerkte, dass dort immer noch Nos Großmutter saß. Neben ihr stand Meister Spitznagel. Er hielt ein silbernes Tablett mit einer Wasserkaraffe und einem Glas in der Hand und beugte sich zu der alten Dame.
    »Meine Liebe«, fragte er freundlich, »darf ich Ihnen einen Schluck Wasser anbieten?«
    »Wasser?«, fragte Nos Großmutter. Dann nickte sie. »Sie haben recht, wenn man alt wird, sollte man immer genug trinken. Ist es auch nicht zu kalt?«
    »Nein«, erwiderte Meister Spitznagel. »Es ist gut. Es ist sogar ganz besonderes Wasser. Darf ich mich, auch wenn es vielleicht etwas unhöflich wirkt, nach Ihrem Geburtsjahr erkundigen?«
    Nos Großmutter lächelte. »Mein lieber junger Mann, in meinem Alter freut man sich doch über jedes weitere Lebensjahr. Aber nach welchem Jahrgang sehe ich denn für Sie aus?«
    Der Kochmeister schmunzelte. »Wenn ich raten darf, würde ich vermuten, dass Sie 1934 geboren wurden.«
    Nos Großmutter riss die Augen auf. »Gut geraten! Das ist mein Geburtsjahr!«
    »Ich dachte es mir!« Meister Spitznagel nahm das Glas vom Tablett, schenkte es voll und reichte es ihr. »Dann wird ihnen dieses Wasser sicher schmecken.«
    Die alte Dame setzte das Glas an die Lippen und trank. Im selben Moment leuchteten ihre Augen auf und sie seufzte wohlig.
    »Sie haben recht! Das schmeckt wie zu Hause bei meiner Mutter! Ja, wirklich! Ich erinnere mich. Ich erinnere mich wirklich.«
    »Das freut mich.« Meister Spitznagel stellte das silberne Tablett auf ein Tischchen neben ihr. »Ich lasse Ihnen die Karaffe da. Einen schönen Tag noch bei uns an der Schule.«
    Rufus’ Mutter hatte die Szene mitverfolgt. Sie sah, wie Meister Spitznagel sich entfernte. Dann schloss Nos Großmutter die Augen und ließ sich zurück in den Sessel sinken.
    Rufus’ Mutter trat näher.
    Die alte Dame schien eingeschlafen zu sein. Etwas angewidert sah sie auf die Lippenabdrücke auf dem Glas. Daraus würde Rufus’ Mutter bestimmt nicht trinken. Aber dennoch musste sie ihre Neugier befriedigen. Kurz entschlossen griff sie nach der Wasserkaraffe, setzte sie an die Lippen und leerte sie in gierigen Zügen.
    Sie verzog das Gesicht. »Das schmeckt ja wirklich fast genauso wie früher bei meiner Großmutter«, murmelte sie.

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