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Die Stunde des Raben

Die Stunde des Raben

Titel: Die Stunde des Raben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Pfeiffer
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feil, alte Messer, Löffel und Gabeln, Bilderrahmen und verschiedene figürliche Gegenstände, die auf einem großen Haufen lagen.
    Coralias Blick richtete sich auf einen schwarz angelaufenen Silberschwan mit ausgebreiteten Schwingen und gerecktem Hals. Sie nahm ihn und reichte ihn Rufus’ Mutter.
    »Was ist das denn?«, fragte diese und hielt den Vogel mit spitzen Fingern hoch.
    »Ich bin mir nicht sicher«, sagte Coralia leise. »Aber sehen Sie nur. Im Schnabel ist ein Loch und der Bauch ist hohl. Dieser Vogel ist eindeutig eine kleine Kanne.«
    »Aber zum Blumengießen ist er doch viel zu klein«, entgegnete Rufus’ Mutter.
    »Dazu hat dieses alte Salbenfläschchen auch nicht gedient, wenn ich richtig vermute.«
    »Salbenfläschchen?« Die Augen von Rufus’ Mutter begannen zu funkeln. »Was meinst du mit Salbenfläschchen?«
    Coralia sah sich verstohlen um. »Richtig müsste es Ampulla heißen«, flüsterte sie dann. »Ich weiß ja nicht, ob sie echt ist, aber sie ist auf alle Fälle gut gemacht. Eine Ampulla ist ein Gefäß für das Ol, mit dem Könige gesalbt wurden.«
    Rufus’ Mutter lachte trocken auf. »Du bist ja verrückt!«
    »Ja, vielleicht«, nickte Coralia. »Aber mein Vater sagt immer: Erst prüfen, dann verwerfen. Und er hat eine echte Spürnase. Er besucht Flohmärkte auf der ganzen Welt und kennt sich da wirklich aus. Deswegen bin ich doch hier im Internat, weil meine Eltern so viel reisen müssen. Kennen Sie nicht die Geschichte der verschwundenen Kronjuwelen?«
    Rufus’ Mutter musste wieder lachen. Spöttisch sah sie Coralia an. »Und die sollen jetzt hier auf dem Trödel liegen?!«
    »Das habe ich nicht gesagt. Aber die britischen Kronjuwelen gingen im Laufe der Zeit zweimal verloren. Bei den jetzigen ist so ein ähnlicher Vogel dabei, allerdings aus Gold. Das erste Mal verschwanden sie 1216 im Schwemmland an den Ufern des Wash. Das waren überflutete Sandbänke. Sie wurden nie gefunden. Und wer weiß, wohin das Wasser sie gespült haben könnte. Fischernetze, Strömungen, alles ist möglich.«
    Rufus’ Mutter schüttelte den Kopf. »Du hast ja wirklich eine blühende Fantasie.« Dann hielt sie inne. »Woher weißt du eigentlich, wie die Kronjuwelen aussehen?«
    »So was lernen wir hier natürlich«, sagte Coralia lässig. »Wir lernen alles, was mit Geld zu tun hat.«
    Rufus’ Mutter betrachtete den Vogel noch einmal genauer. Der Schwan war tatsächlich sehr fein gearbeitet. Sie konnte deutlich jede einzelne Feder erkennen und auf dem Kopf trug er eine winzige Krone. Sie sah den Händler an.
    »Was ist das hier und wie viel kostet es?«
    Der Händler warf einen kurzen Blick auf den silbernen Schwan.
    »Das ist ein Vogel.«
    »Das sehe ich auch«, sagte Rufus’ Mutter barsch. »Aber wozu diente er?«
    »Wozu soll ein Vogel schon dienen? Vielleicht als Briefbeschwerer, was weiß ich. Aber er ist aus Silber, und deswegen kostet er fünfzig Euro!«
    Rufus’ Mutter hielt inne. Dieser Mann hatte ganz offenbar viel weniger Ahnung, als sie gedacht hatte.
    »Und wie alt ist er?«, fragte sie weiter.
    »Oh«, der Händler kratzte sich am Kinn. »Bestimmt sehr alt. Ich habe ihn nämlich von einer sehr alten Frau. Ihr Sohn war Seemann und hat ihr den Vogel von einer seiner Reisen mitgebracht. Sehen Sie nur, ich habe hier viele sehr alte Dinge. Und alles unter hundert Euro!« Er lachte. »Vielleicht ist er ja sogar richtig wertvoll, wer weiß das schon? Fünfzig Euro und er gehört ihnen.«
    »Fünfzig Euro«, gab Rufus’ Mutter ungehalten zurück und schüttelte den Kopf. »Für ein Reiseandenken.« Doch sie betrachtete den Schwan mit gierigem Blick. Jedes Paar Ohrringe, das sie besaß, hatte mindestens das Vierfache gekostet.
    »Na gut, dann Vierzig«, sagte der Händler.
    Rufus’ Mutter schwieg.
    »Dreißig?«, fragte der Mann.
    »Zwanzig«, antwortete Rufus’ Mutter, »und keinen Cent mehr.«
    Der Händler hielt ihr die Hand hin. »Abgemacht, für zwanzig gehört er Ihnen.«
    Rufus’ Mutter ignorierte die Hand. Stattdessen zog sie ihr Portemonnaie heraus und bezahlte. Dann steckte sie den Vogel in ihre Handtasche und wandte sich ab.
    »Und wenn er wirklich etwas wert ist?«, fragte in diesem Moment Coralia neben ihr. »Was bekomme ich dann für meinen Tipp?«
    Rufus’ Mutter runzelte die Brauen.
    »Wie bitte?«
    »Nur mal angenommen«, lächelte Coralia. »Ich hätte ihn ja eigentlich meinem Vater gezeigt, aber der ist immer sehr knauserig. Er gibt mir nur 35 Prozent, wenn ich was für ihn

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