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Die Stunde des Raben

Die Stunde des Raben

Titel: Die Stunde des Raben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Pfeiffer
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wir gleich gelangen«, erklärte der Meister, »nennt sich der Geschlechterturm der Akademie. Weiß einer von euch, was das ist?«
    Filine nickte. »Das waren Türme in Italien, in die sich die reichen Familien zurückgezogen haben, wenn ihre Stadt belagert wurde.«
    Meister Morley brummte zustimmend. »Du bist nah dran. Es waren Festungstürme, und es gab sie auch zuerst in Italien. Aber es gab sie nicht nur dort, sondern auch in Deutschland. Die meisten findet man heute noch in Regensburg. Und wir haben hier ebenfalls einen. Er liegt so tief im Herzen der Akademie, dass man ihn aus der Ferne zwischen den Dächern nicht mal wahrnimmt.«
    Der Meister trat durch einen bogenförmigen Durchgang in einen Gang, an dessen Ende ein Lichtschein zu sehen war. Als die Lehrlinge diesen erreichten, bemerkten sie überrascht, dass sie vor einer fußwegbreiten Brücke standen, die sich vor ihnen wie ein Hügel wölbte. Hinter der Brücke ragte ein mächtiger, viereckiger Turm auf, der dicht umstanden war von weiteren Gebäuden. Rufus hob den Kopf. Er kam sich vor wie in einer Gebäudeschlucht. Die Brücke führte über einen Abgrund, der sich nach rechts und links zwischen dicht gestaffelten Gebäuden dahinzog. Es sah aus wie ein Flusstal mitten in der Akademie.
    »Das ist die Turmbrücke«, erklärte Meister Morley. »Sie führt direkt in den mittleren Bereich des Turms. Er heißt übrigens Rochusturm.«
    Der Meister ging weiter und die Lehrlinge folgten ihm. Über die hüfthohe Steinmauer, die die Brücke links und rechts begrenzte, konnten sie tief unter sich in das Tal blicken, wie Rufus die seltsame Häuserschlucht bei sich nannte. Auf hohen Regalen, die einige Meter über dem Erdboden an den Mauern der angrenzenden Gebäude angebracht waren, lagerten Tausende von seltsam glattgeschliffenen Fragmenten.
    »Was sind denn das für Fragmente?«, fragte Rufus neugierig. »Und warum ist das so komisch hoch aufgebaut? Das sieht völlig verrückt aus.«
    Meister Morley blieb stehen. »Es sind Anschwemmungsfragmente. Sie sind alle lange Zeit im Meer getrieben und haben deswegen diese glattgeschliffenen Formen. Im Gegensatz zu den anderen Fragmenten ordnen wir die Anschwemmungsartefakte nicht nach ihrem Material. Es kann vorkommen, dass Fluten, die sie betreffen, im Wasser spielen. Deswegen seht ihr dort hinten«, er deutete zum äußeren Rand des Anschwemmungstals, »all diese verschiedenen Boote und Flöße. Ihr werdet das bei Direktor Saurini studieren, es ist eines seiner Spezialgebiete. Bei Wasserfluten ist es unter bestimmten Umständen nötig, sich eines dieser schwimmenden Untersätze zu bedienen, was nebenbei gesagt für das Leben der Akademiker nicht ohne Bedeutung ist, wenn sie nicht gerade ausdauernde Schwimmer sind.«
    Er lachte dunkel und stieg die Brücke weiter nach oben. Als sie auf dem höchsten Punkt angekommen waren, sahen Rufus, Filine und No, dass sich die Brücke auf der anderen Seite viel weiter nach unten senkte, als sie bisher emporgeschritten waren.
    »Die Brücke ist ja total schief«, platzte No heraus.
    »Nicht schief«, verbesserte Meister Morley. »Es ist eine asymmetrische Brücke. Der zweite Bogen ist länger als der erste und auch um einiges steiler. Unter dieser Brücke führte vor Jahrhunderten ein Fluss zwischen den Häusern entlang, doch sein Lauf hat sich schon lange verschoben. Die Asymmetrie der Brücke rührt daher, dass sie ursprünglich der stützende Strebebogen für die Mauern eines gotisches Doms werden sollte, der allerdings nie fertig gebaut wurde.«
    Er setzte sich wieder in Bewegung, und die Lehrlinge folgten ihm, bis sie vor einer dunklen, eisenbeschlagenen Holztür standen.
    Der Meister stieß sie auf. Die alte Tür quietschte in den Scharnieren. Der Treppenaufgang des dahinter liegenden viereckigen Turmes war düster, doch der Meister lief die ausgetretenen Stufen mit schnellen, sicheren Schritten hinauf. Obwohl sie den Rochusturm nicht zu ebener Erde, sondern schon in einigen Metern Höhe betreten hatten, war es immer noch ein langer Weg nach oben. Schließlich hatten sie es geschafft.
    Vor ihnen öffnete sich ein großes, dämmriges Turmzimmer. Zwar gab es schmale Fensterscharten, dennoch drang gerade nur so viel Licht in den Raum, um die Dinge, die es hier gab, ausmachen zu können. No riss die Augen auf.
    »Das ist ja der Hammer!«, entfuhr es ihm.
    Er hatte recht. Auch Rufus sah sich neugierig um. Auf dem Boden und an den Wänden stand und hing die gewaltigste Sammlung von

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