Die Stunde des Raben
heraus. »Das sind Eisenspäne«, erklärte er. Dann streute er um jedes der beiden Fragmente und nach einem fragenden Blick auch auf Filines Trommel eine feine Wolke Späne.
Überrascht sah No auf. »Was wird das denn?«
»Wir werden sehen …« Der Meister nahm seine eigene Trommel wieder zur Hand. »Spielen wir weiter. Konzentriert euch dabei so gut ihr könnt auf euer Fragment. Sucht den Rhythmus und stellt euch die Fragen, die ihr ihm stellen wollt. Die Trommel ist eines der ältesten Instrumente der Welt. Sie kann uns helfen, uns besser zu konzentrieren.«
Wieder begann Meister Morley den Rhythmus zu schlagen. No, Filine und Rufus taten es ihm nach.
In dem halbdunklen Turmzimmer hallte das Schlagen der Trommeln von den Wänden wider.
Rufus dachte an sein Fragment. Er hatte sich in den letzten Wochen, wenn er ehrlich war, noch nicht sehr intensiv mit der Scherbe beschäftigt. Er hatte versucht, über sie nachzudenken und bereits viel über Glas und die Glasherstellung in Erfahrung gebracht. Doch die Erinnerung an die erste Flut verhinderte, dass er sich ganz und gar seinem neuen Fragment widmete. In seinem Zeichenblock häuften sich noch immer die Skizzen aus dem alten Ägypten.
Jetzt spürte er plötzlich zum ersten Mal, dass die Glasscherbe Bedeutung erlangen konnte. Eingehüllt von den Trommelschlägen stellte er sich die dunkle Scherbe vor, wie Sonne auf sie fiel, wie Farben in ihr aufleuchteten. Für einen Augenblick schien die Scherbe blau, dann wurde sie plötzlich gelb und leuchtete dabei hell. Rufus hielt unwillkürlich inne.
Blaues Glas, das gelb wurde? Sein Blick fiel auf das Trommelfell vor sich. Überrascht hielt er inne. Was war das? Die Eisenspäne rund um die Scherbe hatten begonnen sich zu ordnen. Sie bildeten ein schwaches, undeutliches Muster um sie herum. Im selben Moment hörte No neben ihm ebenfalls auf zu trommeln.
»Hammer!«, sagte er mit rauer Stimme und sah Meister Morley an.
Der Meister brach sein Spiel ab und schaute zu No. Auch Filine sah zu ihm. Auf ihrer Trommel hatte sich nichts verändert. Aber auf Nos Trommelfell war etwas Unglaubliches geschehen.
Meister Morley nickte anerkennend. »Dein Muster, das Muster deines Fragments«, sagte er, »sieht vielversprechend aus, No. Du hast die Fähigkeit. Du hast sie eindeutig.«
Und so war es. Zeichnete sich schon um Rufus’ Scherbe eine Art Muster ab, so lagen die Eisenspäne um Nos Fragment herum, als hätte ein Maler sie mit dem Pinsel aufgemalt. Rund um das Holzstück bildeten sie einen dunklen Kreis, in dessen Mitte sich hell eine ausgesparte Form zeigte. Sie war leicht rund und länglich, lief an einem Ende flach und am anderen in einer deutlichen Spitze zu. An den seitlichen Rändern hatte sie weitere feine Spitzen, die ihr ein leicht stacheliges Aussehen verliehen.
»Wie geht das?«, fragte No aufgeregt.
»Das Geheimnis sind Rhythmus und Konzentration«, erklärte Meister Morley. »Und ein bisschen Quantenphysik. Jedenfalls ordnen sich die Späne durch das Trommeln in der Form der ersten Idee, die in deinem Fragment steckt. Also in der Idee dessen, was es ursprünglich war.«
»Und was ist das?«, fragte No aufgeregt weiter und starrte die Form auf seiner Trommel an.
»Das sieht aus wie ein Blatt«, sagte Filine. »Wie ein Blatt von einem Strauch oder so.«
»Ja«, bestätigte Rufus. »Das könnte ein Blatt sein!«
»Aber was für ein Blatt?«, drängte No.
Meister Morley sah ihn aufmerksam an. »Denk nach!«, befahl er. »Es ist dein Fragment.«
»Na ja«, stammelte No. »Ein Blatt, also … ein Blatt wächst an einem Baum oder an einem Busch, wie Filine schon gesagt hat.«
Er wurde rot.
»Ich meine …«
No senkte den Kopf und versuchte sich zu konzentrieren. Dann fuhr er plötzlich wieder in die Höhe. »Holz!«, entfuhr es ihm. »Es ist ein Blatt von meinem Holzstück. Das muss es sein. Die erste Idee, die mein Holzstück war, ist die Pflanze, mit der es gewachsen ist. Natürlich, es ist die Form der Blätter, die mein Holz getragen hat. Und das kann ich jetzt suchen.«
»Ja«, sagte Meister Morley. »Das ist eine gute Lösung.« Er blickte in die Runde. »Habt ihr sonst noch Fragen?«
»Ich nicht«, sagte Filine. Sie warf No einen anerkennenden Blick zu. »Das hast du echt gut gemacht. Du hast dich richtig auf dein Fragment eingelassen. Und du hast eine Gabe. Wirklich, No, das war super!«
Der blonde Junge sah sie erstaunt an. »Na ja«, murmelte er verlegen. »Ich hab mich einfach
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