Die Stunde des Raben
konzentriert.«
Filine kniff die Augen zusammen. »Eben! Und wenn du dich heute Morgen genauso auf unser Zusammenspiel konzentriert hättest, hätten wir bestimmt sehr viel bessere Chancen gehabt.«
No wurde rot. Aber Filine grinste ihn an.
»Vergessen wir das einfach. Ich habe mich wirklich über dich geärgert. Aber das hier eben war schön – und ein toller neuer Weg, sich mit seinem Fragment zu beschäftigen. Einverstanden?«
No nickte. »Okay! Abgemacht. Und wenn ihr wollt, können wir uns zusammen auf die Suche nach dem Holz machen. Jetzt haben wir ja einen echten Anhaltspunkt. Was denkt ihr?«
Er sah Filine und Rufus fragend an.
»Ich bin dabei«, verkündete Filine.
Rufus blickte auf das schwache Muster auf seiner Trommel. Er dachte an das blaue Glas, das in seiner Vorstellung gelb geworden war. Und noch etwas ging ihm durch den Kopf. Was war wohl die ursprüngliche Idee, die in der Locke seiner Mutter verborgen war? Würde sie auf dem Trommelfell auch eine Form ergeben? Unsicher stieß er die Luft aus. Dann schaute er zu No, der wie ausgewechselt war. Seine Augen leuchteten, und er wirkte voller Tatendrang. Und plötzlich war Rufus klar, was er jetzt wollte.
»Ich gehe auch mit dir, No«, sagte er.
Meister Morley stellte seine Trommel zur Seite.
»Dann wünsche ich euch viel Erfolg. Und wenn ihr Fragen habt, seid ihr mir hier jederzeit willkommen.«
Seltsame Klänge
No rannte fast durch die langen Gänge.
»Wo willst du denn jetzt hin?«, keuchte Rufus, der Mühe hatte, mit ihm Schritt zu halten.
»Na, in die Bibliothek natürlich«, rief No ihm über die Schulter zu und eilte weiter.
» Du willst in die Bibliothek?« Filine fing an zu kichern.
»Ja, sicher. Wir könnten natürlich auch erst mal Werkmeister Zachus fragen, ob er die Blätter kennt. Aber ich glaube, in der Bibliothek geht es mindestens genauso schnell. Und wenn wir das rausgekriegt haben, dann führt uns das bestimmt weiter.«
»Erstaunlich, dein Sinneswandel«, stöhnte Filine. »Aber müssen wir deswegen wirklich so rennen?«
»Da sind wir ja schon«, unterbrach sie No, der um eine Ecke gebogen war und am Ende des nächsten Ganges auf die hohe, bogenförmige Doppeltür deutete, über der in dicken goldenen Lettern das Wort »Bibliothek« prangte. Schnurstracks steuerte er auf sie zu und stieß sie auf.
In der Bibliothek wurden die Lehrlinge von Meisterin Iggle empfangen. Die strenge Magistra Bibliothecaria mit der olivfarbenen Haut und den schwarzsilbernen Locken saß an einem der alten Arbeitstische und las. Hinter ihrem Rücken stand die große Harfe, die die Bibliothekshalle schmückte, und von der keiner der Lehrlinge wusste, wie sie dorthin gekommen war und was das Instrument überhaupt in einer Bibliothek machte. Über der Meisterin ragten die vielen meterhohen Regale auf, in denen sich die Bücher in langen Gängen wie in einem Bergwerk verteilten. Es roch nach Leder, Papier und Holz.
»Ah, die drei Frischlinge!« Die Meisterin hob den Blick von einem Folioband mit alten Handzeichnungen. »Was führt euch denn her?«
»Holz«, sagte No schnell. »Genauer gesagt, Blätter. Ich kenne die Form eines Blattes und will wissen, zu welchem Holz es gehört.«
»Blätter«, sagte die Magistra Bibliothecaria. »Ein interessanter Ansatz, nachdem du tagelang Bücher über Hölzer gelesen hast. Wie bist du denn darauf gekommen?«
»Wir waren bei Meister Morley«, erwiderte No knapp.
»Ach, das Trommeln. Leider beherrsche ich diese Kunst nicht«, bekannte Meisterin Iggle. »Es ist eine überaus seltene Fähigkeit. Und ich habe mir schon oft gewünscht, selbst ein Musiker zu sein. Es ist immer wieder ein wahres Wunder, was man in der Akademie mit musikalischen Fähigkeiten ausrichten kann.« Sie warf No einen anerkennenden Blick zu. »Blätter!«, wiederholte sie dann und wies in einen der langen Gänge. »Da hinten sind die Blätterkataloge und alles, was mit ihrer Bestimmung zu tun hat. Geradeaus, dritter Quergang rechts, die hinteren vier Regale. Viel Erfolg!« Sie nickte noch einmal in die angewiesene Richtung und beugte sich dann wieder über ihr Buch.
Die Lehrlinge folgten der Wegbeschreibung. Wie jedes Mal fühlte Rufus sich zwischen den vielen Büchern ein wenig wie in einem Traum. Die Dunkelheit und die schimmernden Buchrücken, der Geruch nach altem Papier, Staub und Tinte empfingen ihn wie das Gefühl kurz vor dem Einschlafen, wenn sein Geist allmählich in den Schlaf zu gleiten begann. Nur, dass er hier jederzeit
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