Die Stunde des Raben
ein Buch aus einem der Regale ziehen, es in die Hand nehmen und darin lesen konnte. Nein, Träume und Bücher, dachte Rufus, waren vielleicht doch etwas sehr Verschiedenes. In Büchern steckte viel Arbeit. Träume waren dagegen wohl eher wirre Gedanken.
»Hier sind sie«, meldete sich Nos Stimme vor ihm. Er war wieder vorausgeeilt und zog eben einen dicken Wälzer aus einem Regal. Rufus ließ den Blick über die Buchrücken vor sich schweifen. Es gab mehr als ein Dutzend Bestimmungsbücher höchst verschiedenen Alters, wie er an den Buchrücken erkennen konnte.
Auch Filine hatte bereits ein Buch in die Hand genommen und las darin. Nur Rufus konnte sich noch nicht entscheiden.
»In dem Regal hier stehen nur Bücher über Blattformen«, murmelte No neben ihm. Sorgfältig blätterte er das Exemplar in seiner Hand durch. »Aber das hier sind alles runde Blätter mit glatten Rändern. Das ist es nicht.« Er klappte den Band zu und stellte ihn zurück.
Rufus zögerte. Er wusste plötzlich nicht, ob er auch nach dem Blatt suchen sollte. Irgendetwas hielt ihn davon ab. Auf seiner Trommel hatte sich eben nur eine undeutliche Form gezeigt, und doch hatte er das seltsame Farbspiel gesehen. Er schüttelte den Kopf. Das war es nicht, was ihn jetzt beschäftigte. Er sollte wirklich No helfen. Rufus würde heute Abend noch genug Zeit haben, eine Zeichnung von dem zu machen, was er selbst gesehen hatte.
Entschlossen streckte er die Hand aus und griff nach dem erstbesten Buch. Es war ein Werk über Büsche.
In diesem Augenblick tauchte eine dunkle Schnauze unter dem untersten Regalbrett auf. Es war Minster, die Bisamratte, die in der Bibliothek bei Meisterin Iggle lebte und sich unter anderem von Radiergummis ernährte. Sie hatte Rufus bei der Auswahl seines ersten Fragments geholfen, und er spürte sofort, dass sie auch jetzt etwas von ihm wollte. Die schwarzen Knopfaugen starrten zu Rufus hinauf und Minsters Nase zitterte leicht. Dann verschwand sie plötzlich wieder unter dem Regal und sofort darauf wurde ein schmales, altes Buch darunter hervorgeschoben.
Neugierig bückte sich Rufus. Minster hatte ihm auf diese Weise schon einmal ein Buch zukommen lassen. Damals, als Coralia versucht hatte, ihn, Filine und No zu betrügen. Mit Hilfe des Buches hatte Rufus den Betrug aufdecken können.
Am hinteren Ende des Buches erschien Minsters krallenbewehrte Pfote.
»Hast du da etwas über Holzsorten, Minster?«, flüsterte Rufus.
Natürlich antwortete die Bisamratte nicht. Stattdessen kam sie unter dem Regal hervor und stupste mit der Schnauze das Buch an. Rufus hob es auf. Es war in dunkelblaues Pergament gebunden und trug keinen Titel. Vorsichtig schlug er es auf.
Das alte Papier raschelte. Auf der ersten Seite war ein seltsames Bild zu sehen. Es sah aus wie eine mit Tinte angefertigte Zeichnung, und sie stellte einen Mann in einer Kutte dar, der sich zu einem Vogel beugte und mit ihm zu sprechen schien. Darunter stand in verschnörkelten Buchstaben: »Tiersprachen und Träume«. Verwirrt kniff der Lehrling die Augen zusammen. Träume und Tiersprachen. Das ist ja verrückt, dachte er. Was haben Träume und Tiere miteinander zu tun?
Er blickte zu Minster. »Soll ich Tiersprachen lernen, Minster, damit wir uns unterhalten können?«, flüsterte er und lächelte. »Das ist eine super Idee, aber ich muss jetzt No helfen. Da kann ich nicht zwischendurch noch schnell eine neue Sprache lernen. Und was soll das mit dem Träumen? Wenn ich jetzt einschlafe, und das müsste ich wohl, um zu träumen, dann könnte ich No überhaupt nicht mehr beistehen.«
Rufus schlug das Buch wieder zu und schob es zu Minster zurück. »Minster, wir suchen Holz. No hat das Blatt, das die Pflanze trug, schon entdeckt. Es ist stachelig und spitz.«
Minster setzte eine Pfote auf das Buch, richtete sich auf und sah Rufus an.
»Ich habe jetzt wirklich keine Zeit dafür«, sagte Rufus leise. Er zog einen Radiergummi aus der Tasche und reichte ihn der Bisamratte. »Hier, der ist für dich. Bitte bring das Buch wieder dahin, wo es hingehört. Ich muss jetzt nach dem Blatt suchen. Das habe ich No versprochen.«
Im selben Moment stieß No einen Freudenschrei aus.
»Ich hab’s! Leute! Das ist der Hammer! Hört euch das an!« Er tippte heftig mit dem Finger auf eine Zeichnung vor sich, die genauso aussah wie das Blatt, das der Eisenstaub auf seiner Trommel gebildet hatte. »Es ist Stechpalme! Und hört nur mal, was hier noch steht! Das weiße Holz hat einen
Weitere Kostenlose Bücher