Die Stunde des Raben
stellte den Teller auf seinem Schreibtisch ab, trat ans Fenster, stützte die Arme auf die Fensterbank und sah hinaus. Über den Dächern stand die Sonne schon rötlich und war im Sinken begriffen. Er mochte das Licht hier oben und er liebte den einsamen Blick aus seinem Zimmer über die Ziegellandschaft. Dann drehte er sich um und ließ sich mit einem wohligen Stöhnen in seinen Sessel sinken. Er nahm den Teller vom Schreibtisch, stellte ihn sich auf den Schoß und begann das Brot und den Käse zu essen. Es war ein runder, weicher, herrlich duftender Ziegenkäse, den ihm Meister Spitznagel empfohlen hatte.
Rufus kaute und schloss dabei die Augen. Plötzlich kam ihm Minster in den Sinn. Was hatte die Bisamratte ihm vorhin nur für ein Buch geben wollen? Es war nicht sehr nett von ihm gewesen, dass er sie gar nicht richtig beachtet hatte. Wenn Minster ihm etwas gebracht oder gezeigt hatte, war es bisher immer wichtig gewesen. Aber Tiersprachen und Träume? Er wusste einfach nicht, was das bedeuten sollte.
Rufus stellte den Teller ab, stand auf und nahm einen frischen Radiergummi aus seiner Schreibtischschublade, wo er einen Vorrat für Minster angelegt hatte. Die hohen Bücherstapel auf dem Tisch würde er heute Abend unberührt lassen. Und morgen früh würde er die Bisamratte suchen und sie nach dem Buch fragen.
Er steckte den Radiergummi in seine Hosentasche. Dann öffnete er seinen Hirschlederbeutel und zog die Scherbe hervor. Für ein paar Minuten betrachtete er sie. Sie war eindeutig blau. Auch wenn sie beim Trommeln gelb gewirkt hatte. Rufus schüttelte den Kopf und steckte sie wieder weg. Dann legte er den Beutel ab, zog sich aus, wusch sich, putzte sich die Zähne und kroch in sein Bett.
Wenige Minuten später war er eingeschlafen.
Als Rufus die Stimmen hörte, wusste er sofort, dass er träumte. Es waren die Stimmen der beiden Mädchen, er erkannte sie, wenn auch nur schwach und aus der Ferne. Es klang, als flüsterten sie leise miteinander.
Der Lehrling sah sich um. Er war im selben Wald, in dem er bereits letzte Nacht im Traum gewesen war. Er war weit und kahl und von hellem Mondlicht erfüllt. Ein kalter Wind strich durch die Äste und über die Stämme. Er wirbelte Schneeflocken mit sich, die Rufus kalt auf den Wangen stachen.
Das leise Heulen des Windes klang unheimlich. Und es übertönte die Stimmen.
Rufus konnte keinen Menschen erkennen und auch keine Spuren von menschlicher Anwesenheit ausmachen. Und doch war er sich ganz sicher, dass er sich in demselben Wald befand. Aber wieso?
Was machte ihn so sicher?
Er blickte zu Boden. Auf einer schneebedeckten Fläche vor ihm verlief eine Pfotenspur. Hier musste ein Tier entlanggelaufen sein. Rufus beugte sich hinab und studierte die Abdrücke. Sie stammten von einem fünfzehigen Fuß. Die Zehen waren dünn und lang, und im Schnee waren die Abdrücke scharfer Krallen zu erkennen. Dazwischen saßen kurze Schwimmhäute. Und mitten in der Fährte verlief eine tiefe Furche, die der Schwanz des Tieres hinterlassen haben musste.
»Minster!«, flüsterte Rufus.
Kaum hatte er den Namen der Bisamratte ausgesprochen, verwandelte sich etwas. Rufus stand noch immer im Wald, doch jetzt war dieser plötzlich von lautem Rufen und dem Geschrei vieler menschlicher Stimmen erfüllt. Und es war wieder dieselbe Sprache, die Rufus auch in der Nacht zuvor gehört hatte. Die Sprache der beiden Mädchen.
Doch diesmal waren es mehr Stimmen, die er hörte, und sie gellten voller Furcht und Angst.
»Sie legen Feuer!«
»Beschützt die Königin!«
»Schart euch um die Königin!«
»Schwester!«, ertönte plötzlich eine helle Stimme hinter Rufus.
Er fuhr herum. Doch da war nichts, nur die hohen Baumstämme, die in den Nachthimmel ragten. Dann eilten hinter ihm Schritte davon. Rufus fuhr erneut herum. Für einen Moment glaubte er, eine große Gestalt mit einem Helm zu sehen, die ein Mädchen packte.
»Schwester!«, rief die helle Stimme erneut. Das Kind in den Armen der großen Gestalt wurde deutlicher. Es streckte die Arme nach jemandem aus. Dann wand es sich wie wild, riss sich frei und lief weg.
»Rettet die Königin!«, rief eine Stimme von ferne.
»Wo sind ihre Töchter?«
Die große Gestalt mit dem Helm verschwand. Und dann war nur noch ein Getöse zu hören.
Rufus spürte große Hitze, als stünde er nah vor hohen Flammen. Dazu ertönte ein lautes Prasseln, wie von einem Feuer, das sich gierig seine Nahrung suchte.
»Schwester?!«, vernahm er nun eine
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