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Die Stunde des Raben

Die Stunde des Raben

Titel: Die Stunde des Raben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Pfeiffer
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andere Stimme. »Schwester!«
    »Hier …«, flüsterte es schwach. »Ich bin hier! Hilf mir!«
    »Schwester?«, fragte die zweite Stimme angstvoll. Für einen Augenblick wurde es unheimlich still. Dann schluchzte dieselbe Stimme. »Ich bin da! Ich bin da! Gib mir deine Hand! Hab keine Angst mehr! Sie haben auch Mutter angegriffen! Aber sie lebt!«
    »Hilf mir auf!«
    Es klang, als rappelte sich jemand mühsam auf. Dann sagte die helle Stimme, die um Hilfe gebeten hatte: »Wo ist Mutter? Ich will zu ihr!«
    Und plötzlich war es wieder still.
    Rund um Rufus lag der Wald, und nur das leise Knistern der Schneeflocken drang an seine Ohren.
    Rufus schauderte. Was hatte er da eben gehört? Es waren die Stimmen der beiden Mädchen gewesen. Er hatte sie erkannt. Aber was war ihnen nur geschehen? Lebten sie? Waren sie dem Schrecken entkommen?
    Ja, dachte Rufus. Gestern in seinem Traum hatten sie gelebt und ihre Mutter hatte sich um sie gekümmert. Das musste nach dem gewesen sein, was der Traum jetzt berichtete. Es war derselbe Traum zu einem früheren Zeitpunkt … Was bedeutete das?
    »Minster?«, flüsterte Rufus unsicher. »Bist du hier?«
    Er sah zu Boden. Doch die Pfotenspur war verschwunden, zugedeckt vom frischen Schnee. Wie lange hatte er hier gestanden? Wie lange träumte er schon? Rufus starrte in die Dunkelheit. Was geschah hier? Und dann merkte er, dass der Wald um ihn herum in einen schattenhaften Nebel davonglitt. Sich immer weiter entfernte …
    Und eine Sekunde später umfing Rufus ein traumloser, tiefer Schlaf.
     
    Wie er es angekündigt hatte, war No durch die Akademie gewandert, um in Ruhe nachzudenken.
    Doch er war auf nichts Neues gestoßen. Jedenfalls auf nichts Neues, was sein Fragment betraf. Dennoch war er zuversichtlich, dass er bald die nächste Spur entdecken würde.
    Er ging in die Mensa. Es war Nacht und niemand war da. No sah auf den Rosten und Tischen auf der Sanddüne nach, was es zu essen gab. Er fand einen halben kalten Braten, Brötchen vom Morgen und frische Feigen. Mit einem der großen Messer von Meister Spitznagel schnitt er sich eine ordentliche Scheibe Braten ab, biss hungrig hinein und kaute dann gemächlich.
    Als er aufgegessen hatte, stand er auf. Es war Zeit, zu Bett zu gehen. No grinste zufrieden. Waschen würde er sich heute Abend nicht mehr, das konnte bis morgen warten, aber aufs Klo musste er noch dringend.
    Er verließ die Mensa, lief schnell die Wendelrampe empor und bog in den Gang ab, an dem Rufus’ und sein Zimmer sowie die einiger anderer Lehrlinge lagen. Die Toiletten waren weiter hinten. No beeilte sich.
    Als er zurückkam, lag der Gang dunkel vor ihm. Er hatte etwa den halben Weg zu seinem Zimmer hinter sich gebracht, als ein Geräusch ihn aufhorchen ließ.
    Etwas klirrte, wie Metall, das auf Metall stieß. Und darüber schoben sich aus weiter Ferne laute, aggressiv klingende Stimmen. No hielt inne. Er blickte sich um, konnte aber nichts ausmachen.
    Dann flüsterte er: »Stechpalme!«
    No starrte in die Dunkelheit. Da! Kam da nicht etwas? Er kniff die Augen zusammen und machte einen Schritt vorwärts. War das nicht ein Wagen auf hohen Rädern? Waren da nicht Gestalten auf dem Wagen? No trat noch einen Schritt vor.
    Doch im selben Augenblick lag nur noch der dunkle Gang vor ihm und No konnte weder etwas Ungewöhnliches sehen noch hören. Und was eben noch wie ein Wagen gewirkt hatte, sah jetzt einfach nur aus wie der Schatten von Rufus’ Zimmertür.
    No blieb einen Moment mit angehaltenem Atem stehen. Aber da war nichts mehr. Oder vielleicht war da auch gar nichts gewesen und er war einfach nur müde und hatte geträumt.
    Er stieß die Luft aus und gähnte herzhaft.
    Dann ging er in sein Zimmer.
     
    Rufus erwachte von einem mächtigen Dröhnen.
    Er fuhr zusammen. Wieder dröhnte es. Er schlug die Augen auf.
    Das gewaltige Geräusch erfüllte sein ganzes Zimmer, aber es kam nicht aus der unmittelbaren Nähe. Es kam von irgendwo aus der Akademie. Sein ganzes Zimmer bebte und vibrierte davon.
    Es war wie ein Erdbeben mit Orgelbegleitung. Rufus sprang aus dem Bett. Durch das Fenster fiel fahles Morgenlicht. Was geschah hier? In Windeseile schlüpfte Rufus in seine Kleidung. Dann zog er die Tür auf und sah in den Gang.
    No kam ihm aus seinem Zimmer entgegen.
    »Hörst du das auch?«, fragte Rufus.
    »Natürlich!«, rief No und fuhr sich durch die verstrubbelten Haare. »So einen Sound habe ich noch nie gehört! Komische Art von Wecker ist das …«
    Rufus schluckte.

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