Die Stunde des Raben
eine tiefe Ruhe. Ohne erklären zu können, wie es kam, hatte Rufus den Eindruck, als stünden die Dinge hier auf eine ihm unbekannte Art miteinander in Kontakt.
Unwillkürlich schloss der Lehrling die Augen. Konnte es sein, dass die Kräfte der Akademie hier unten stärker waren? Wenn er versucht hätte zu zeichnen, was er wahrnahm, hätte Rufus das Gewölbe mit einer Art Kraftfeld versehen.
»Das kann nicht sein«, schoss es ihm durch den Kopf. »Dinge kommunizieren nicht miteinander.«
Er trat an das nächste Regal.
Im selben Moment zupfte etwas an seinem Ärmel.
Erschrocken fuhr Rufus herum. Aber neben ihm war niemand. No und Filine gingen einige Meter hinter ihm. Und die anderen Lehrlinge, von denen jetzt immer mehr eintrafen, liefen alle an ihnen vorbei und weiter nach hinten, wo sie sich um etwas versammelten, das wie ein riesiger Eisenkessel aussah. Das musste die Glocke sein, die mit der Öffnung nach oben zeigte.
Rufus schluckte. Er hatte ganz deutlich gespürt, dass etwas nach ihm gegriffen hatte. Aber was? Vorsichtig spähte er in die Regale vor sich. Und dann entdeckte er hinter einem kleinen Kanu aus dunklem Holz, das mit Federn und Perlen besetzt war, einen Schatten. Dunkle Knopfaugen starrten ihn aus einem haarigen Gesicht an.
»Minster!«, flüsterte Rufus. »Was machst du denn hier? Musst du mich so erschrecken?«
Plötzlich kam ihm sein Traum wieder in den Sinn. Auch da war Minster gewesen. Oder besser ihre Fußspuren. Schon das zweite Mal in einem Traum! Hatte das alles miteinander zu tun? Natürlich! Und auch das Buch, das sie ihm hatte geben wollen …
Die Bisamratte streckte ihre Pfote aus, als wollte sie Rufus noch einmal packen. Dann hielt sie inne und nur ihr Schwanz wippte auf und ab und stieß dabei leicht gegen einen Gegenstand, der neben dem Kanu im Regal lag.
»Minster, was willst du denn?«, fragte Rufus eindringlich.
Die Bisamratte versetzte dem Gegenstand noch mal einen leichten Stoß. Endlich sah Rufus genauer hin. Es war ein Ring aus gebogenem Holz, durch den kreuz und quer viele feine Silberfäden liefen. An den Fäden waren verschiedene Schmuckstücke befestigt. Eine Wurzel, ein türkisfarbener Stein, Tierhaare, mehrere Zähne und etwas, das aussah wie …
Minster schlug mit dem Schwanz dagegen, und das Gebilde rasselte kurz auf wie eine Klapperschlange.
Rufus fuhr zurück.
Das war die Rassel einer Klapperschlange. Nein, die Sachen in dem Kreis waren keine Schmuckstücke, dachte Rufus. Das waren eher ….
»Mann, ist das cool hier!«, ertönte in diesem Moment Nos Stimme hinter ihm. Rufus fuhr herum.
»Ein irrer Ort! Echt der Hammer! Ich frage mich nur, warum hier so viele Artefakte liegen? Ich dachte immer, die kommen alle in Museen und so.«
»Keine Ahnung«, gab Rufus zurück. Er blickte wieder in das Regal, aber Minster war verschwunden. »Sag mal, No«, Rufus zeigte auf den seltsamen Gegenstand. »Weißt du, was das ist?«
No betrachtete den Holzreifen. »Das ist ja witzig. Ja, klar. Das sieht aus wie ein Traumfänger. Ich habe da gerade was in einem der Holzbücher darüber gelesen. Hier, das weiche Holz für den Ring, das ist bestimmt Weidenholz. Die Indianer haben so was gemacht. Damit fängt man die guten Träume und verscheucht die bösen. Könnte von den Azteken stammen …« No grinste. »Tja, Lesen bildet anscheinend doch!«
Rufus nickte. »Indianerzauber«, murmelte er vor sich hin. Das war es, was er auch gedacht hatte. Er hatte früher im Museum oft die entsprechende Abteilung besucht und dort hatten, wenn auch keine Traumfänger, so doch ähnliche Rasseln oder seltsame Instrumente gelegen. Aber was sollte das? Erst das Buch über Träume und jetzt ein Traumfänger? Was wollte Minster ihm damit sagen? Denn dass die Bisamratte ihm etwas mitteilen wollte, war Rufus inzwischen ziemlich klar. Aber wieso?
»He, Jungs, seid ihr da angewachsen?« Filine kam ebenfalls zu ihnen herüber. »Die Meister winken schon die ganze Zeit. Wir sollen rüber zu der Glocke kommen. Der Direktor will sprechen.« Das Lehrlingsmädchen sah in das Regal und ihr Blick fiel auf das dunkle Kanu. »Oh, da seid ihr ja mal wieder in der finstersten Ecke gelandet. Das Kanu ist ein altes Totenschiff. Los, kommt schon. Für die Reise ins Reich der Toten ist es noch zu früh!«
Sie lächelte Rufus und No an und zog sie mit sich in den nächsten Saal, wo die Lehrlinge und Gesellen sich inzwischen versammelt hatten und Direktor Saurini auf einem steinernen Podest neben der Glocke
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