Die Stunde des Raben
Günter No an.
»Wo denn?«, fragte No. Dann warf er Filine einen neckischen Blick zu. »Vielleicht in dein Gesicht, Fili? So, wie der Meister und Oliver es auf dem Körper von Oliver machen. Du bist das einzige Mädchen hier, würdest du dich mir zur Verfügung stellen?«
Filine funkelte No an. »Das hättest du wohl gerne! Ich lasse mich bestimmt nicht von dir bemalen.«
»Schade!«, grinste No. »Das würde bestimmt sehr hübsch bei dir aussehen.«
»Findest du mich denn ohne Bemalung hässlich?«
No wurde rot. »Nein, so meinte ich das doch nicht.«
Der Meister griff nach einem Block Papier, den er No zusammen mit einem Bleistift reichte.
»Versuch es doch erst mal damit. Zu Körperbemalungen können wir dann immer noch im Unterricht kommen. Vielleicht könnt ihr beide euch ja mal auf indianische Art bemalen. Da ging es sehr bunt zu.«
»Äh, ja klar …«, stammelte No. Dann fügte er hinzu: »Auch wenn Filine sehr hübsch ist, als Indianermädchen wäre sie bestimmt auch nicht uncool.«
Jetzt wurde Filine rot.
No grinste, nahm den Stift und das Papier und zeichnete dann langsam und etwas unsicher eine gewundene und in sich verschlungene Form. Neugierig sah ihm Rufus über die Schulter. Man sah deutlich, dass No es normalerweise vorzog, technische Zeichnungen anzufertigen. Die Formen, die offenbar rund und verschlungen waren, gerieten ihm allesamt wie etwas, das nach verschlungenen Kabelsträngen aussah.
»Hm«, der Meister beugte sich vor. »Das ist, so wie es aussieht, leider kein bekanntes Muster. Und doch könnte genau das ein Hinweis sein. Es gibt nämlich nur eine Gruppe von Menschen, von denen man aus alten Berichten weiß, dass sie Gesichtsbemalungen getragen haben, von deren Bemalungen aber im Lauf der Geschichte keine Bilder erhalten geblieben ist. Und das waren die Kelten. Wir kennen Schwerter von ihnen und Schilde und die Verzierungen darauf, aber wir haben nie ein bemaltes Gesicht gesehen. Allerdings lebten sie weit über die Erde verstreut. Sie haben das gesamte heutige Europa bewohnt, vom tiefen Süden bis in den hohen Norden. Deutet irgendetwas in eurer Flut auf den Landstrich hin, wo das gewesen sein könnte? Habt ihr sie sprechen hören?«
»Nein«, sagte No. »Es war eine völlig stumme Szene.«
Rufus wollte gerade »Ja« sagen, als ihm einfiel, wie wütend No vorhin reagiert hatte, als er davon gesprochen hatte, dass es in seinem Traum auch noch einen Wald gegeben hätte. Unsicher hielt er sich zurück.
Der Meister nickte bedächtig. »Dann hilft hier nur weiteres Studium. Und leider nützen in diesem Fall keine Bücher und Aufzeichnungen der gewöhnlichen Art.«
No lächelte erleichtert. »Ach, na ja, da kommen wir schon mit klar, wenn es was anderes gibt …«
Meister Günter nickte. Er deutete auf einen zweiten Ausgang aus der Kuppel. »Dort im Nebengebäude liegen die Säle der Masken, der Tätowierungen und der Körperbemalung mit vielen Zeichnungen. Unter ihnen befinden sich aufgemalte Fluterinnerungen und historische Querverweise, wie die Nachzeichnungen von Mustern, die Reisende in anderen Kulturen entdeckt haben. Die Sammlung ist ziemlich umfangreich und, wie ich leider zugeben muss, ein ziemliches Sammelsurium. Ihr müsst euch wohl einige Tage Zeit nehmen, um euch da durchzuarbeiten.«
»Deswegen heißt der Turm hier wohl Turm der Arbeit«, sagte No.
Der Meister lachte auf. »Ich merke schon, du bist ein wahrer Akademiker! Forscht also in der Praxis! Malt die Gesichter, die ihr gesehen habt, nach und vergleicht eure Werke mit dem Vorhandenen. Vielleicht findet ihr einen Hinweis, der euch weiterhilft. Nehmt euch so viel Papier und Farben, wie ihr benötigt. Es sind Pflanzenfarben, ihr könnt damit alles versuchen, auch auf eurer Haut, wenn ihr es doch mal probieren wollt.«
»Okay, danke, Meister Günter! Dann legen wir jetzt gleich los.«
No nahm sich einen neuen Block und eine große Dose mit blauer Farbe sowie einen Pinsel. Rufus tat dasselbe. Filine nahm nichts.
Der Meister sah den drei Lehrlingen hinterher, als sie durch den schmalen Ausgang aus der Kuppel im Maskensaal verschwanden. Dann beugte er sich über einige Schalen mit Pflanzenfarben und rief Oliver wieder zu sich.
Der Ausgang aus dem Turm der Arbeit führte in einen ganz und gar aus Holz bestehenden Raum, an dessen leicht schrägen Wänden Tausende Masken dicht gedrängt neben- und übereinander hingen. Masken in allen Farben und Formen, mit geschnitzten Gesichtern, mit Muscheln als Augen und
Weitere Kostenlose Bücher