Die Stunde des Raben
ihnen geträumt haben.«
»Ja«, sagte Rufus fest. »Das habe ich.«
No dachte wieder nach. »Und was glaubst du, in welchem Land wir waren?«
»Ich kenne die Sprache nicht«, wiederholte Rufus. »Ich habe keine Ahnung.«
»Na schön, wie probieren es. Wenn es nicht klappt, dann machen wir mit den Mustern weiter. Wenn es der richtige Weg ist, dann zeigt das auch, dass dein Traum und meine Flut wirklich zusammengehören. Aber wenn nicht, dann hörst du auf damit, so davon zu reden, als wäre es dasselbe.«
»Und wenn mein Traum und deine Flut zusammengehören: Wie gehen wir dann damit um?«, fragte Rufus.
No holte Luft. »Dann gehört das irgendwie zur Akademie dazu. Auch wenn ich es merkwürdig finde. Aber dann folgen wir dem Weg der Akademie. Seht ihr das auch so?«
»Das ist eine gute Entscheidung«, sagte Filine. Sie stand auf, trat zu No und nahm seine Hand. »Das ist wirklich sehr weise, No.«
Rufus und No standen ebenfalls auf, und Rufus legte seine Hände in Filines und Nos.
»Also dann!«, sagte No den Wahlspruch, den er vor einiger Zeit für sie gefunden hatte: »Einer für alle und alle für einen!«
Zu dritt standen sie da, hielten sich an den Händen und sahen sich bei Nos Worten in die Augen. Dann wiederholte Rufus die Worte, die er zuletzt in seinem Traum im Wald gehört hatte: »Es war ein Roudo, und er wird uns vor den Rotschöpfen beschützen!«
Kaum waren die Worte verhallt, erschien die Flut.
Es war Nacht. Doch diesmal befanden sich die Lehrlinge nicht in einem Wald, sondern an einem Waldrand. Rufus erblickte freien Himmel über sich. Und einen so gewaltig leuchtenden Himmel hatte er in seinem ganzem Leben erst einmal gesehen: hoch über dem alten Ägypten. Die Sterne leuchteten hell und schienen sich gegenüber dem, was er bisher zu Hause über der Stadt beobachtet hatte, vervielfacht zu haben. Das Firmament war eine wahre Pracht. Es leuchtete bis auf die Erde, obwohl der Mond nicht am Himmel stand.
Rufus senkte den Blick und schaute sich um.
Es waren keine Menschen in unmittelbarer Nähe. Doch von ferne drangen Stimmen und Geräusche zu ihnen.
Plötzlich zog No ihn am Arm. Rufus wandte den Blick in die Richtung, in die er deutete. Hinter einigen schmalen Feldern, auf denen der Schnee schwach im Sternenlicht glänzte, sah er ein Dorf liegen. Oder vielmehr die Reste eines Dorfs.
Die Hütten waren abgebrannt, Holz und Steine lagen durcheinander, und dort, wo die mit Gras und Reet gedeckten Dächer noch erhalten geblieben waren, züngelten Flammen, die die Szene in ein gespenstisches Licht tauchten. Vor einem größeren Haus stand ein dunkler hoher Stein.
Viel mehr konnte man auf die Entfernung nicht ausmachen.
»Da ist was passiert«, sagte No beklommen. »Das Dorf muss angegriffen worden sein.«
Rufus schwieg. Der Anblick des zerstörten Dorfes war nur schwer zu ertragen. Doch er konnte auch Menschen sehen, die aus verschiedenen Richtungen auf das Dorf zueilten. Und sie alle trugen Waffen: Schwerter, Schilde und Speere.
Rufus hielt nach den beiden Mädchen Ausschau. Aber trotz der hellen Flammen konnte er keine Gesichter erkennen. Dann bemerkte er, dass Filine neben ihm in den Himmel blickte.
»Filine? Was machst du da?«
»Wir müssen näher ran!«, sagte No im selben Moment. »Von hier aus sehen wir nicht genug.«
»Nein«, sagte Filine. »Ich will da nicht hin. Das Dorf ist angegriffen und zerstört worden. Und die Menschen greifen nach den Waffen.«
»Aber wir müssen die Mädchen finden«, drängte No. »Sie sind der einzige Anhaltspunkt für die Flut. Wir müssen in das Dorf.«
»Was machst du denn da, Filine?«, fragte Rufus wieder.
»Ich versuche herauszufinden, wo wir sind«, antwortete das Lehrlingsmädchen.
»Am Himmel?«, fragte No entsetzt. »Bitte, Fi, hör jetzt auf mit deiner Sternenguckerei. Wir müssen der Flut folgen, sonst zieht sie sich zurück.«
Unsicher schaute Rufus sich um. Warum waren sie an dieser Stelle hier gelandet? Was wollte die Flut ihnen zeigen? Zuerst hatte er die Mädchen gesehen und ihre Mutter. Und No hatte die Mädchen auch gesehen. Aber jetzt war da ein niedergebranntes Dorf.
Ratlos drehte sich Rufus um die eigene Achse. Auch er wollte sich dem Dorf nicht weiter nähern. Es machte ihm Angst. Oder ging es vielleicht darum? Mussten sie diese Angst überwinden? Auf was würden sie dort treffen? Vielleicht hatte es Tote gegeben.
In diesem Moment hörte er etwas. Es klang wie Räder, die über den gefrorenen Boden rollten.
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