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Die Stunde des Raben

Die Stunde des Raben

Titel: Die Stunde des Raben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Pfeiffer
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das Gesicht. »Wenn wir das gewusst hätten, hätten wir den Trumm nicht erst nach oben schleppen müssen.«
    Er nahm sich einen Apfel und biss hinein.
    Direktor Saurini lachte auf. »Ja, in die Zukunft kann man in der Akademie leider nicht gucken! Kommt jetzt, ihr solltet schlafen gehen. Es ist spät. Ihr wart wirklich lange unterwegs.«
    »Aber wir waren eben erst beim Frühstück«, widersprach No.
    »Es ist bereits Nacht«, erklärte der Direktor.
    »Aber wir waren doch höchstens eine Stunde oder so in der Flut.«
    »Flutzeit entspricht nicht immer der Lebenszeit«, sagte Gino Saurini. »Je intensiver das Fluterlebnis ist, je bedeutender seine Erkenntnis, desto mehr Zeit vergeht in aller Regel in der Akademie, während man sich in der Flut aufhält. Ich vermute also, ihr habt keine unwichtigen Entdeckungen gemacht, dort, wo ihr wart. Kommt jetzt, ich zeige euch den kürzesten Weg ins Gewölbe.«
     
    Als die drei Lehrlinge im Gewölbe ankamen, brannten dort in mehreren Ampeln Kerzen, die ein warmes und gemütliches Licht verbreiteten. In der Nähe der großen Glocke waren drei Feldbetten aufgebaut. Daneben stand ein Tisch mit Büchern.
    Selbst die Artefakte waren schon hergebracht worden.
    No ließ sich auf die Stufen vor der großen Glocke sinken.
    »Wenn man in einer Flut ist«, meinte er, »wird einem echt klar, dass die Wirklichkeit viel grausamer ist, als man sich das so vorstellt, wenn man darüber in einem Geschichtsbuch liest.«
    Er seufzte.
    »Mir taten die beiden echt leid. Die Römer kommen nach Britannien und killen einfach so die Druiden. Und dann nehmen sie einer Frau und ihren Töchtern mal eben das Dorf weg und alle Rechte, nach denen sie bisher gelebt haben.«
    »Und doch ist es der Lauf der Geschichte«, sagte Filine.
    »Nein!«, meinte Rufus. »Der Lauf der Geschichte, das klingt, als wäre es ein Fluss, der so dahinströmt. Aber das ist alles von Menschen gemacht.«
    »Aber das ist die Geschichte«, widersprach Filine. »Die Menschen machen sie.«
    »So, wie dieses köstliche Essen hier auch!«, ließ sich eine kräftige Stimme vernehmen. Meister Spitznagel betrat das Gewölbe. Er trug eine große silberne Platte mit dampfenden Speisen in Händen.
    »Na, philosophiert ihr über die Ungerechtigkeit des Seins und die Grausamkeit der Geschichte?«
    »Genau!«, rief Rufus. »Ehrlich, Meister Spitznagel, nichts auf der Erde kann so böse sein wie die Menschen. Nur der Mensch führt Krieg.«
    »Sicher, wenn er schwach ist, gierig oder neidisch«, erwiderte der Kochmeister und stellte die Platte auf einem Tisch ab. »Oder auch hungrig! Aber es stimmt, die Fluten und die Einblicke in die Geschichte unserer Vorfahren sind nicht immer leicht zu ertragen. Denkt ihr, dass ihr es schaffen werdet?«
    Filine nickte ohne zu zögern.
    No seufzte. »Ich habe Angst um die Mädchen und Tyrai.«
    »Ich auch«, pflichtete Rufus ihm bei.
    Meister Spitznagel sah die beiden an. »Jeder Mensch geht seinen Weg. Und keiner kommt daran vorbei, die Wege anderer Menschen zu kreuzen. Mir ist euer Mitgefühl sehr sympathisch. Aber um das Leben als Ganzes zu erkennen, ist es notwendig, den Widerspruch nicht zu fürchten. Nichts ist sicher. Wo man sich wehren muss, muss man sich wehren. Und keiner kann seinen Weg vorhersehen. Meinen Weg hat übrigens vorhin Direktor Saurini gekreuzt, und ich habe es nicht geschafft, mich dagegen zu wehren, als er mich bat, euch das Essen zu bringen.«
    Der Koch schmunzelte.
    »Er hat mir gesagt, eure Flut wäre bei den Kelten in Britannien. Seitdem schwirrt mir eine keltische Weisheit durch den Kopf, die ich schon immer sehr mochte: Die drei Quellen des Wissens sind Denken, Intuition, Lernen. Und die Grundlage für diese Quellen habe ich euch hier mitgebracht. Hirschbraten, Hülsenfrüchte und naturtrüben Apfelsaft!« Meister Spitznagel deutete auf die Platte, die er auf den Tisch gestellt hatte. »Lasst es euch bitte schmecken! Und außerdem wünsche ich euch allen drei eine gute Nacht!«
    Er lächelte den Lehrlingen zu. Dann trat er zu Rufus und sagte leise: »Und dir wünsche ich keine zu wilden Träume.«
    Dankbar sah Rufus den Meister an. »Guter Nacht, Meister Spitznagel. Und danke!«
    Der Meister drehte sich um und nahm eine der Ampeln, mit der er sich den Rückweg über die dunklen Treppen nach oben leuchtete.
    »Gute Nacht!«, rief No ihm nach.
    »Gute Nacht!«, rief auch Filine.
    Die Lehrlinge setzten sich an den Tisch, um zu essen. Meister Spitznagel hatte wie immer ein wunderbares

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