Die Stunde des Raben
antworten, als vor ihnen der Wagen mit Brae, Aili und Tyrai auftauchte.
»Klammert euch fest«, befahl der Druide. »Sie dürfen uns nicht bemerken. Niemand darf sein Schicksal sehen.«
Dann sprang er mit einem mächtigen Satz über den Wagen und seine Insassen hinweg. Für einen Moment flogen die drei Lehrlinge auf dem Rücken des Hirsches durch die Luft, dann fassten seine Hufe wieder Boden. Und im nächsten Moment war der Wagen schon weit hinter ihnen.
»Jetzt erzähl endlich«, fing No-Tyrai noch mal an.
Doch wieder unterbrach ihn der Hirsch. »Wartet!«, sagte er. »Du, in Tyrais Gestalt, ich habe dir noch etwas zu sagen.«
»Mir?«, fragte No.
»Ja, und nun hör zu: Grün ist die Stechpalme in der Winterzeit. Immer noch grün. Sie ist Zeichen des Weiterlebens. Sie ist das Leben und der Tod. Ihre giftigen Beeren und Blätter bringen den Tod. Ihre Beeren sind rot wie Blut. Der Speer bringt den Tod. Aber die Stechpalme ist das Leben. Und beides ist die Stunde des Raben.«
»Sie wissen etwas von dem Holz, das ich bei mir trage?«, stotterte No verdattert.
Der Druide in Gestalt des Hirsches neigte leicht den Kopf und schwieg. Er lief weiter und die Landschaft flog an den Lehrlingen vorbei. Und plötzlich tauchte vor ihnen am Straßenrand eine Gruppe römischer Soldaten auf.
Es waren drei Männer. Sie trugen zerfetzte Uniformen und ihre roten Helmbüsche waren abgerissen. Sie hatten müde Gesichter, und in ihren Augen standen Wut und Verzweiflung.
Der Hirsch trabte hinter einen Felsen in einiger Entfernung und setzte seine Reiter ab. »Jetzt ist es Zeit, deinen Plan zu erklären, junger Rufus«, sagte er. Dann drehte er sich um und sprang davon.
Rufus wandte sich No und Filine zu. »Also gut …«, flüsterte er.
Im selben Moment kam ein Mann um den Felsen herum. Es war ein römischer Soldat, der mit gezücktem Schwert auf sie zukam.
»Wen haben wir denn da?«, rief er. »Habe ich mich also doch nicht verhört!« Der Legionär musterte die drei Lehrlinge in ihrer neuen Gestalt eindringlich. »Flüchtlinge? Haben sie euch auch vertrieben, eure feinen Stammeshäuptlinge? Ja, das ist ein barbarisches Land. Ich hätte die schöne Küste Roms nie verlassen dürfen, um auf diese erbärmliche Insel zu kommen. Um wie ein Wildschwein zu leben, hätte ich auch in meinen heimatlichen Stall ziehen können. Und da wäre es mir noch besser ergangen!«
Er sah No auffordernd an.
»Gib mir dein Schwert!«
»Mein Schwert, aber ich, äh, ich habe kein …«
»Dein Schwert«, wiederholte der Römer und deutetet auf Tyrais Schwert, dass No am Gürtel trug. »Und die Axt.«
No sah an sich herab. »Oh, ja. Natürlich! Die hatte ich ganz vergessen.« Schnell händigte er seine Waffen aus.
Der Soldat spuckte auf den Boden.
»Mitkommen!«
Er winkte Rufus, Filine und No um den Felsen herum und führte sie zu den übrigen Legionären. Dabei polterte er: »Das habt ihr jetzt davon, Kelten! Eure eigenen Aufständischen, diese Wilden, haben euch aus eurem Dorf vertrieben und ihr müsst nun dafür büßen! Barbaren seid ihr alle miteinander, in Tierhäute gekleidete Dummköpfe!«
Filines Augen in Braes Körper blitzten auf. In wohlklingendem Lateinisch antwortete sie: »Unsere Kultur reicht bis zur Steinzeit zurück. Und nur, weil ihr keine Wälder kennt, heißt das nicht, dass das Leben hier weniger lebenswert ist als in römischen Prunkvillen und Bädern. Die du allerdings bestimmt noch nie von innen gesehen hast, denn du bist doch selbst nur ein armer Legionär ohne Besitz. Und der Aufstand wird auch nicht von barbarischen Stammeshäuptlingen angeführt, sondern von Königin Boudicca! Merk dir diesen Namen, Legionär, es ist der Name der Königin.«
Der Soldat spuckte wieder auf den Boden. »So eine Königin kann mir gestohlen bleiben. Denn solchen Königinnen«, er dehnte das Wort verächtlich in die Länge, »bringen unsere Cäsaren seit über 20 Jahren die Zivilisation.«
Sie hatten die Gruppe der übrigen Römer erreicht.
»Wen hast du denn da, Gaius Publius?«
»Ich hatte mich hinter dem Felsen zum Schlafen hingelegt, als diese Britannier hier auftauchten. Wie aus dem Nichts.«
Die drei Soldaten starrten die Lehrlinge misstrauisch an und musterten insbesondere No in der Gestalt Tyrais. Aber als sie sahen, dass er keine Waffen mehr trug, verhielten sie sich ruhig.
Filine dagegen war immer noch nicht fertig. »Zivilisation nennst du das?«, sagte sie, an den Wortführer gewandt. »Welche Art schmachvollster und
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