Die Stunde des Schakals (German Edition)
dir.»
Das stimmte. Eigentlich war er die ganze Zeit bei ihm gewesen. Vor dem Haus in Ludwigsdorf, am Flughafen von Windhoek, bei dem brennenden Auto mit der Leiche drin, im Bus nach Südafrika, im Hotel, im Lastwagen, als die Laderaumtür geöffnet wurde. Er war von Anfang an ein treuer Weggenosse gewesen, aber erst seit dieser Nacht sprach er auch zu ihm. Jetzt sagte er: «Hier ist es zu unsicher. Du musst den Abhang hoch und noch ein Stück ins Veld hinein. Dann schläfst du ein paar Stunden.»
Er nickte. Er musste den Abhang hoch! Wenn er auf allen vieren kroch, brauchte er das verletzte Bein nicht so sehr zu belasten. Er warf sich die Tasche auf den Rücken, krabbelte, rutschte zurück, schob sich weiter, spürte die Dornen in seinen Händen und die glühenden Stiche in seinem Schenkel. Ganz oben war Sand, weicher Sand. Er fiel auf die Seite, hustete, blieb liegen. Sein Begleiter beugte sich über ihn. «Los, auf!»
«Ich kann nicht mehr», japste er.
«Da vorn ist ein Feldweg. Willst du, dass sie dich entdecken, wenn es hell wird?»
«Ich muss ausruhen.»
«Dafür hast du später Zeit genug.»
Er versuchte, sich mit der Hand hochzustemmen, fiel zurück. Die Wunde blutete doch. Oder schon wieder.
«Es wird kein Später geben», sagte er.
«Noch ist es nicht so weit», sagte sein Begleiter. Sein Gesicht war nun ganz nah. Es sah nicht so aus, wie man es sich vorstellte. Keine leeren Augenhöhlen, keine fleischlosen bleichen Knochen, keine grinsenden Zahnreihen anstelle der verwesten Lippen. Das Gesicht glich seinem eigenen, soweit er sich an dessen Aussehen erinnerte. Sie hätten Brüder sein können, sein Begleiter und er, eineiige Zwillinge.
Er schloss die Augen. Es war tröstlich, nicht allein zu sein. Er konnte sich glücklich schätzen, einen Freund zu haben, der über ihn wachte. Der mit kalter Hand alle erstarren ließ, die sich näherten. Er konnte beruhigt schlafen, konnte sogar das Bewusstsein verlieren. Selbst wenn ihn sein Begleiter angelogen haben sollte und er jetzt doch starb, war er schon in der richtigen Gesellschaft. Es war alles in bester Ordnung.
Er träumte trotzdem unruhig, von einem fiebrigen Morgengrauen, von der Farbe Rot, von einer gleißenden, hin- und herspringenden Sonne über sich. Er sah Geier kreisen und hörte ihren schweren Flügelschlag, wenn sie neben ihm landeten. Seine Hand winkte ihnen zittrig zu. Noch war es nicht so weit. Das Bein spürte er nicht mehr. Selbst der Husten war besser geworden. Sein Begleiter war allerdings verschwunden.
Dann, als die Sonne bereits gegen Westen torkelte, tauchte er wieder auf. Wahrscheinlich hatte er Wichtiges zu erledigen gehabt. Seine Hand schlug ihm sacht auf die Wange, sein Gesicht beugte sich über ihn. Es war untertags alt geworden, hatte nun tiefliegende Augen, eine ledrige Haut, und im Mund zeigten sich mehr Zahnlücken als Zähne dazwischen. So glich es schon eher dem Gesicht des Todes.
«Ist es jetzt so weit?», fragte er.
Der Tod antwortete in einer Sprache mit Klicklauten. Die beherrschte er nicht. Er fragte sich, was passierte, wenn man dem Tod nicht folgte, weil man seinen Befehl mitzukommen nicht verstanden hatte. Ob man dann ewig lebte? Aber der Tod wusste sich zu helfen. Er fasste ihn unter den Achseln und unter den Kniekehlen, wuchtete seinen Körper hoch und schleppte ihn bis zur Fahrspur vor. Dort stand ein zweirädriger, buntangemalter Karren, vor den ein Esel und ein Maultier gespannt waren. Auf dem Bock saßen drei kleine schmutzige Kinder. Dass die auch schon mit hinübermussten!
Der Tod legte ihn auf der Ladefläche des Karrens ab und sagte etwas in seiner unverständlichen Sprache. Das größte der Kinder sprang vom Bock. Lauf! dachte er, vielleicht kommst du noch mit dem Leben davon. Aber der Junge kehrte kurz darauf mit der blauen Sporttasche zurück. Der Lauf der Kalaschnikow ragte heraus. Der Tod schnalzte, und der Karren setzte sich in Bewegung.
Sie holperten durch die Hitze. Immer wieder schauten die Kinder verstohlen zu ihm her. Er dachte, dass er auf dem Karren des Todes wirklich keine Skrupel mehr zu haben brauchte. Jetzt war doch alles egal. Er lächelte den Kindern zu.
«Wann kommt endlich die Bahre?», fragte Clemencia. Der Polizist aus Gobabis zuckte die Achseln. Donald Achesons Leiche lag in seinem Schlafzimmer. Unter der Decke, die irgendjemand darüber gebreitet hatte, sahen die nackten Füße hervor. Die Fersen nach oben, die Zehen nach innen eingedreht. Die graue Decke war aus
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