Die Stunde des Venezianers
Wir haben lange nichts mehr aus der Comté gehört.«
»Sie wird es Euch berichten. Da ich ohnehin nach Male unterwegs bin, werde ich sie dort aufsuchen. Verzeiht, dass ich Euch aufgehalten habe, und vergesst, dass Ihr mich gesehen habt.«
»Ich könnte Euch diesen Weg abnehmen«, bot sich Colard an. Auch wenn er jetzt überzeugt war, dass Contarinis Erscheinen nicht den Geschäften galt, lag ihm daran, dass er Aimée nicht begegnete. »Ich hatte mich ohnehin dazu entschlossen, Aimée in Male aufzusuchen. Wichtige Entscheidungen müssen getroffen werden.«
»Das ist nicht nötig. Ich sagte doch, dass ich nach Male muss.« Domenico stülpte seinen Hut wieder auf die mittlerweile kurz geschorenen Haare und ging zur Tür. »Gott schütze Euch, de Fine.«
Mit langen Schritten eilte er aus dem Haus. Dass dort nicht alles zum Besten stand, hatte er, ohne es zu wollen, ganz nebenbei erfahren. Er würde sich darum zu gegebener Zeit kümmern, aber jetzt musste er seinen Auftrag erst einmal erfüllen.
Er war als geheimer Gesandter des Dogen von Venedig unterwegs. Schlimm genug, dass sein erster Weg ihn nicht nach Male, sondern in das Haus Cornelis geführt hatte.
Das heitere Sommerfest in Male ließ Domenico Contarini an einen jener farbenfrohen, prächtigen flämischen Wandteppiche denken, die er vor Jahren für Aimée nach Dijon geschafft hatte. Damen, Edelmänner, Gaukler und Musikanten tummelten sich auf einer Blumenwiese hinter dem Schloss. Sonnendächer beschirmten die Köstlichkeiten, die auf üppig gedeckten Tischen warteten, und Weinkrüge. Pagen, Diener und Mägde eilten, die Wünsche ihrer Herrschaft zu erfüllen. Wie üblich unterhielt der Herzog seine Gäste mit einem aufregenden Spektakel.
Madame Margarete und ihre Damen lagerten auf Decken und Kissen, während sie dabei zusahen, wie sich eine Meute von Jagdhunden gegen einen Bären behauptete, der auf vielen Jahrmärkten für Schrecken gesorgt hatte. Contarini tat das Tier leid, das mit seinen gestutzten Krallen eher verwirrt als angriffslustig wirkte. Es missfiel ihm, dass eine so stolze Kreatur zum Zeitvertreib gedemütigt wurde, aber er hatte gelernt, seine Meinung für sich zu behalten. Es war nicht seine Aufgabe, die Vergnügungen des Hofes zu tadeln.
Da die meisten Augen auf den ungewöhnlichen Kampf gerichtet waren, konnte er sich unbemerkt unter die Höflinge mischen. Er hatte sich umgezogen, war kostbar genug gekleidet, um nicht unangenehm aufzufallen, aber auch so schmucklos, dass er in der Menge unterging. Den Federhut tief in die Stirn gezogen, ließ er die Augen über die Menge gleiten. Wo war Aimée Cornelis?
Eben als er sich abwenden wollte, sah er sie an der Seite eines Mannes unter eines der Sonnendächer treten. Beide drehten dem ungleichen Kampf den Rücken zu. Sie hatten nur Augen füreinander. Aimée ließ sich von ihrem Begleiter mit frischen Erdbeeren füttern, die er zuvor in cremig geschlagene Sahne tauchte. Das Paar gab ein Bild gefühlvoller Vertrautheit ab, das jeden Betrachter berühren musste.
In dem Augenblick, als Contarini sich zurückziehen wollte, drehte Alain von Auxois sich zur Seite, so dass er dessen Gesicht erkennen konnte. Contarini glaubte seinen Augen nicht zu trauen.
Ein neben ihm stehender Ritter folgte seinem Blick und schüttelte völlig konsterniert den Kopf.
»Unglaublich, wie ähnlich Ihr ihm seht! Man könnte denken, Ihr wäret der Glückspilz. Viele beneiden diesen Alain von Auxois darum, dass er die schöne Aimée von Andrieu für sich erobern konnte. Da werden wohl in Kürze für den Hauptmann des Herzogs und die Vertraute seiner Gemahlin die Hochzeitsglocken läuten.«
Domenico Contarini verzog keine Miene. Unter seinem Wams steckte der Brief an Aimée. Er bot ihr darin seine Dienste und seinen Beistand an. Aber wie es aussah, benötigte sie weder das eine noch das andere.
Enttäuscht sammelte er sich für seinen eigentlichen Auftrag und wandte sich an den Haushofmeister des Herzogs. Zu seiner Überraschung wurde er noch am selben Tag empfangen. Ein Page führte ihn kurz nach Sonnenuntergang auf die westliche Wehranlage der Burg, wo ihn Philipp der Kühne freundlich begrüßte.
»Willkommen in Male, Messer Contarini. Dem Empfehlungsschreiben entnehme ich, dass Ihr der Neffe des amtierenden Dogen von Venedig seid.«
»Und sein Gesandter«, fügte Contarini hinzu und überreichte die Botschaft, die für den Herzog bestimmt war. Zurücktretend ließ er ihm Zeit, das Schreiben zu studieren. Wie
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