Die Stunde des Venezianers
würde Philipp auf den Vorschlag des Dogen reagieren? Die Lebhaftigkeit seiner Züge ließ nicht erkennen, was er dachte.
»Ihr kennt den Inhalt dieses Schreibens?«, fragte der Herzog schließlich und sah auf. Sie waren gleich groß und konnten sich direkt in die Augen blicken.
»Gewiss.«
Die knappe Antwort gefiel dem Herzog. Er faltete das Schreiben.
»Wie ich lese, seid Ihr bereit, eine geheime Botschaft an den Hof des Königs von England zu überbringen. Ein Unterfangen, das Euch in Lebensgefahr bringen kann. Warum tut Ihr das?«
»Dieser Krieg muss ein Ende haben«, entgegnete Contarini. »Der Handel mit England liegt auch für uns danieder, unsere Schiffe sind nicht mehr sicher. Venedig muss fürchten, dass die Flanderngaleeren zwischen die Kriegshandlungen geraten. Ist nicht eben im Hafen von La Rochelle eine verheerende Schlacht geschlagen worden? Wie es aussieht, erlaubt es die Lage nicht, dass sich die Galeeren wie üblich trennen und nach Brügge und London fahren, um dort ihre Geschäfte zu machen.«
»Wer sagt Euch, dass ein Friedensvorschlag in England offene Ohren findet? Man könnte ihn auch als Schwäche unsererseits auslegen.«
»Der König ist krank, und sein Sohn, der schwarze Prinz, hat ein seltsames Leiden aus Spanien nach Hause gebracht. Auch die klugen Köpfe am englischen Hof haben erkannt, dass der Krieg von keiner Seite gewonnen werden kann. Aber ihnen sind die Hände gebunden, solange sie nicht sicher sein können, dass auch auf dieser Seite des Kanals zunehmende Kriegsmüdigkeit besteht, und auch die Bereitschaft zu Verhandlungen.«
»Das Amt des Unterhändlers ist schwierig und undankbar, Messer Contarini. Es verwundert mich, dass es ein Venezianer auf sich nimmt.«
»Meine Wertschätzung für Flandern trifft sich mit den Wünschen meines Onkels, des Dogen, Euer Gnaden. Ich habe lange Jahre in Brügge gelebt, und ich bewundere die Stadt und ihre Menschen. Man sollte ihre Fähigkeiten nutzen und nicht in sinnlosen Konflikten zermürben. Aber ich bin natürlich vor allem aus ganzem Herzen Venezianer, und Venedig kann, als Handelszentrum des Abendlandes, seine Geschäfte nicht florierend betreiben, wenn so wichtige Handelsrouten wie der Kanal zwischen England und Frankreich vom Krieg blockiert werden.«
»Lasst mich darüber nachdenken, Messer Contarini«, sagte der Herzog und winkte einem Pagen, der außer Hörweite der Treppe gewartet hatte. »Nehmt meine Gastfreundschaft an, bis ich Euch morgen meine Entscheidung mitteile. Der Junge wird dafür sorgen, dass Ihr ein gutes Quartier erhaltet und ein gutes Mahl. Es ist ratsam, dass Ihr Eure Kammer nicht verlasst. Manch einer wäre vielleicht über Eure Anwesenheit verwundert. Unter meinen Gästen befinden sich keine Italiener. Zudem seid Ihr der leibhaftige Doppelgänger eines meiner besten Ritter.«
»Es ist mir nur recht, mich zurückziehen zu können«, antwortete Contarini knapp. Er folgte dem Pagen.
Er lag lange wach und lauschte der Musik, die über die Mauern von Male auf das flache Land hinaus wehte. Der Hof feierte. Aimée tanzte mit ihrem Liebsten.
36. Kapitel
B URG VON M ALE , 3. J ULI 1372
»Woher hast du diesen Brief?« Aimée prüfte das Wappen auf dem Siegel und wartete auf Lisons Antwort.
»Ein Page hat ihn gebracht. Ich nehme an, Herr Colard schickt ihn.«
»Er kommt aus Andrieu«, sagte Aimée tonlos. »Aber es ist nicht die Schrift meines Onkels.«
»Öffnet ihn«, riet Lison praktisch. »Es hat keinen Sinn, sich Fragen zu stellen, wenn man die Antwort bereits in Händen hält.«
Ein guter Rat. Dennoch suchte Aimée Halt am Ring ihrer Großmutter, ehe sie das Siegel brach und die dicht beschriebenen Blätter auseinanderfaltete. Ihre Augen suchten erst die Unterschrift.
»Dein Vetter Philippe, Graf von Andrieu.«
Die Schrift verschwamm ihr vor den Augen. Wieso schrieb Philippe und nicht ihr Onkel? Was war mit Jean-Paul? Aimées Herz stockte. Erst als Lison sie heftig an der Schulter rüttelte, kam sie zu sich.
»Was ist passiert?«
»Ich weiß es nicht.«
»Dann lest doch endlich! Barmherziger Himmel, Ihr bringt Euch selbst und mich um den Verstand mit Eurem Zögern. Wo bleibt Eure Entschlossenheit?«
Lison hatte sich in den langen Jahren gegenseitiger Vertrautheit das Recht erworben, so mit ihr zu sprechen. Aimée lächelte ihr zu und entzifferte die unbekannte Schrift:
Liebe Cousine Aimée,
es fällt mir schwer, dir zu schreiben, aber der Himmel lässt mir keine andere Wahl. Am zwanzigsten Tag
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