Die Stunde des Venezianers
verborgen.«
»Ihr werdet es herausfinden, wenn es so weit ist«, erwiderte sie mit einer leisen Herausforderung in der Stimme.
»Dafür bleibt mir nicht mehr viel Zeit.«
Aimée sträubte sich, auf den bedeutungsvollen Ton der Antwort einzugehen. »Der Sommer hat doch eben erst begonnen …«
»Es ist nur eine Frage von Tagen, bis ich den Befehl erhalte, zu meinen Männern vor Calais zu stoßen. Der König wünscht die Engländer einzukreisen. Er will sie langsam, aber sicher vom Festland treiben, bis ihnen nur noch der Weg über das Meer auf ihre Insel bleibt.«
»Ihr müsst uns so schnell verlassen?« Aimée legte unbewusst eine Hand auf Alains Arm.
»Bedauert Ihr es?«
Er umschloss ihre Hand mit seiner.
»Welche Frage! Ihr wisst es. Ich will nicht, dass sie Euch töten.«
Aus der ersten Berührung wurde ein Griff um ihre Taille, schließlich eine Umarmung. Aimée legte die Stirn gegen seine Schulter. Es fühlte sich gut an, vermittelte ihr ein ungekanntes Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit. Seit ihr Onkel sie verlassen hatte, war dies die erste Schulter, an der sie es sich erlaubte, schwach zu sein.
Sie spürte Alains Kuss auf ihrer Stirn, roch einen vagen Lavendelduft und schmiegte sich mit geschlossenen Augen enger an ihn.
»Lasst die wenigen Stunden, die uns bleiben, nicht ungenutzt verstreichen, Aimée. Ich kann Male nicht verlassen ohne die Gewissheit, dass Ihr meine Liebe erwidert.«
Die ebenso ungenierte wie leidenschaftliche Aufforderung entwaffnete Aimée mehr als eine romantische Liebeserklärung. Er suchte ihre Lippen.
Aimée gefiel der Kuss. Sie fühlte sich hingezogen, aber noch zögerte sie. Sie prüfte seine Liebkosungen, empfand sie als angenehm und tat den nächsten Schritt.
»Kommt nach drinnen.«
Sie ahnte seine Verblüffung mehr, als sie sie sehen konnte. Sein ungeniertes Lachen sagte ihr, es war zu spät für einen Rückzug.
Er übernahm die Führung, und Aimée ließ es zu. Sie schämte sich nicht ihrer Nacktheit, ließ seine staunende Bewunderung zu, gab sich der Erregung hin, die das sehnsüchtige Küssen ihrer Brüste auslöste, die zärtliche Erforschung ihres Körpers durch seine Hände. Seine verhaltenen Liebkosungen löschten die Erinnerungen an Rubens Selbstsucht aus. Sie gab sich uneingeschränkt der Leidenschaft hin.
Sie hatte keine Ahnung, wie weit die Nacht fortgeschritten war, als sie erwachte. Alain schlief, einen Arm schützend um sie und den anderen über die Stirn gelegt. Sie spürte seine Atemzüge, seine Berührung.
Ungereimtes und Seltsames bedrängte sie ebenso wie die Erkenntnis, dass sie bisher um das Glück körperlicher Liebe betrogen worden war. Weshalb hatte Ruben nie die Geduld aufgebracht, mit der die Leidenschaft gezügelt werden muss, um das Glück der Liebe zu erfahren? Die Antwort war einfach. Weil er nur sich selbst geliebt hatte. Würde sie ihn heute besser verstehen, ihn zur Liebe hinführen können?
Hör auf zu grübeln, ermahnte sie sich schließlich. Auch Ruben hat seinen Platz in deinem Leben. Er hat dich nach Brügge gebracht und dir damit den Weg zu deinem Erbe geebnet.
Die Stimme der Vernunft in ihr klang noch immer wie die ihrer Großmutter. Ja, sie würde endgültig Abschied nehmen von Ruben und ihren Gefühlen eine neue Orientierung geben.
»Du bist wach?«
Aimée schmiegte sich an Alains Körper. Sie war nicht länger allein. Mit den Fingerspitzen zeichnete sie die Umrisse seines Gesichtes nach und berührte sacht seine Lippen. »Habe ich dich geweckt?«
»Nein, ich höre dich denken.«
»Ich habe kein Wort gesagt.«
»Du denkst über dein Leben nach. Was ist das für ein Leben, das du in Brügge führst? Etwas muss falsch daran sein.«
Seine scharfsinnige Beobachtung zwang Aimée, ehrlich zu antworten.
»Ich war einsam.«
»Du wirst nie mehr einsam sein, Liebste. Du hast mich.«
»Du wirst nach Calais ziehen und dort gegen die Engländer kämpfen, hast du das schon vergessen?«
»Ich werde siegen und zurückkommen.«
»Dafür werde ich jeden Tag beten. Du wirst auf dich aufpassen, versprich es mir.«
»Du kannst dich darauf verlassen. Ich habe einen Grund zu überleben. Meine Braut wartet in Brügge auf mich.«
Aimée rückte etwas von ihm ab und sah ihn forschend an. Er spielte versonnen mit einer ihrer blonden Haarsträhnen.
»Du kannst mich nicht heiraten«, sagte sie sanft.
»Wer sollte mich daran hindern?«
»Ich, Alain. Ich leite ein Handelshaus in Brügge. Ich habe Verpflichtungen. Ich muss
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