Die Stunde des Venezianers
letzte Zuflucht gewesen, er war der Einzige, der ihr bedingungslos Schutz geboten hatte, der Anteil an ihrer Kindheit hatte. An wen sollte sie sich in Zukunft wenden? Wer kannte sie so gut wie er?
»Aimée, Liebste!«
Alain hatte sie gefunden. Vermutlich mit Hilfe von Lison, die ihren Lieblingsplatz auf den Zinnen kannte und ihren möglichen neuen Herrn ins Herz geschlossen hatte.
Die Wärme seiner Umarmung schob sich zwischen Aimée und die gefährliche Tiefe. Alain verstand nicht, warum ihre Trauer so groß war, aber er fühlte, dass sie ihn brauchte. Er murmelte ihr Trostworte ins Ohr und strich ihr beruhigend über die verkrampften Schultern, bis sie endlich nachgab und den Kopf an seine Schulter legte.
Aimée war unter den Ersten, die am Morgen die Burgkapelle aufsuchten. Sie ignorierte den Weihrauchdunst, sank am Rand des Chorgestühls auf die Knie und ließ die Perlen ihres Rosenkranzes durch die Finger gleiten. Das Gotteshaus war ihr an diesem Morgen eine Zuflucht vor Alains besorgten Blicken und Lisons vorsichtigen Fragen. Beide wollten Antworten von ihr, die sie ihnen nicht geben konnte, wusste sie doch selbst nicht, wie es weitergehen sollte. Onkel Jean-Pauls Tod bedeutete nicht nur den Verlust eines wichtigen Menschen, er raubte ihr auch gleichzeitig den lebenslang gewohnten Zufluchtsort in Andrieu. Sie wollte in der Burg ihrer Großmutter weder die Trauer seiner Witwe teilen noch der jungen Frau ihres Vetters den Platz als Herrin streitig machen. In Courtenay allein zu leben verlockte sie indes genauso wenig. Courtenay war Vergangenheit. Der Ort ihrer Alpträume.
Der Rosenkranz schlug mit einem leisen Klirren gegen das Chorgestühl und ließ sie aufschrecken. Würde Gott ihre Gebete hören? Konnte er ihr helfen? Was sollte er tun? Würden Gebete ihr den Weg weisen, den sie zu gehen hatte?
Aimée glaubte an Gott, wenn sie auch Grund hatte, an seiner unendlichen Güte zu zweifeln. Sie hatte lernen müssen, dass der Trost, den sie in seiner Anrufung fand, immer nur von kurzer Dauer war. Sie dürfe sich von Schicksalsschlägen nicht entmutigen lassen, dürfe den Dingen nicht einfach ihren Lauf lassen und sich ihrem Schmerz hingeben, hätte Großmutter sicher gesagt. Wie oft schon hatte sie sich zum Handeln, zu Entscheidungen zwingen müssen.
Ich muss es auch dieses Mal anpacken und Gott bitten, dass es mir gelingen möge.
Eine Berührung an ihrer Schulter ließ sie aufsehen. Herzogin Margarete, nur von einer ältlichen Kammerfrau begleitet, lächelte sie an.
»So ernst an diesem schönen Tag, meine Freundin? Nehmt Ihr Euch die bevorstehende Abreise Alains so zu Herzen?«
Aimée bekreuzigte sich hastig und stand auf. Die Herzogin, ebenso früh auf den Beinen wie sie selbst, hatte ihre Gebete bereits beendet und gab ihr gar keine Gelegenheit zu antworten. Sie strebte dem Ausgang zu. Ein kurzer Wink bedeutete Aimée, ihr zu folgen. Vor dem Gotteshaus blieb sie stehen, warf einen Blick über den Burghof und sah Aimée schließlich fragend an.
»Sagt mir, warum Ihr so ernst seid. Ihr habt mir nicht geantwortet.«
Aimée unterrichtete die Herzogin vom Tod ihres Onkels. Berührt von der bewegenden Schilderung ihrer Kindheit mit ihm, stellte sie ihr die eine und andere Frage, obwohl der Lärm die Verständigung schwer machte. Das anteilnehmende Gespräch tat Aimée gut.
Ein Bauernfuhrwerk, auf dem Weg zu den Vorratshäusern des Grafen, ratterte direkt vor ihnen lautstark über das Kopfsteinpflaster. Um diese Morgenstunde gehörte der Innenhof ausschließlich den Knechten und Mägden, die für das Wohl der Burgbewohner zu sorgen hatten.
»Schon wieder Wolltuch«, hörte Aimée die Herzogin murmeln.
Abgelenkt sah auch sie dem Gefährt nach. Unter einer Plane konnte man die Umrisse der Ballen erkennen. Schon lange hatte sie nicht mehr so viele Ballen gesehen. Die Schwierigkeiten der Rohwollbesorgung machten ein rares Gut aus dem feinen Brügger Wolltuch.
»Woher kommt das viele Wolltuch? Aus Gent?«, fragte sie neugierig, obwohl sie sich gleichzeitig sagte, wie seltsam es war, dass die Genter gewöhnliche Bauern als Fuhrknechte beschäftigten.
»Aber nein. Das ist einfaches Zeug aus den Dörfern rund um Brügge und Male«, erwiderte die Herzogin geringschätzig. »Mein Vater ermuntert die Bauern, neben ihrem Tagwerk auch noch zu weben und zu färben. Da es auf dem Lande jedoch keinen Tuchhandel gibt, muss er ihnen ihre Produktion selbst abnehmen. Das ländliche Tuchgeschäft wird in erster Linie von
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