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Die Stunde des Venezianers

Titel: Die Stunde des Venezianers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cristen Marie
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des Monats Juni ist unser geliebter Vater und Lehnsherr zu seinem Himmlischen Vater heimgegangen. Er ging versehen mit den heiligen Sakramenten der Kirche, umgeben von seiner Familie und bedacht von ihren Gebeten. Er bat mich noch in seiner letzten Stunde, dir seine Liebe und seinen Segen zu schicken. Er starb an den Folgen einer schweren Verkühlung, die er sich zu Beginn des Osterfestes zugezogen hat. Keine Medizin brachte ihm Erleichterung, und am Ende begrüßte er den Tod als Erlösung.
    Aimée kämpfte mit den Tränen. Erst nach einigen schweren Atemzügen vermochte sie weiterzulesen.
    Unsere Mutter, mein Bruder und meine Schwestern sowie meine Frau senden dir ihre Umarmungen und ihren Trost. Wir alle wissen, dass er auch für dich ein Vater war. Wir sind in Trauer mit dir vereint. Ich danke dem Himmel dafür, dass ich zu Hause sein konnte und von ihm Abschied nehmen durfte. Er starb, wie er gelebt hat, in Sorge um die Seinen.
    Aber der Krieg geht weiter. Auch ich werde Andrieu in Kürze verlassen müssen, um wieder für den König zu kämpfen. Dem Lehnseid unserer Vorfahren treu, bin ich gezwungen, unsere waffenfähigen Männer aufzubieten und anzuführen. Ich wünschte, ich könnte sie an einem bunten Band führen und vor Schaden bewahren, wie du es als Kind mit den Lämmern getan hast, die dir besonders am Herzen lagen. Vielleicht könnte ich sie auf diese Weise gesund nach Andrieu zurückbringen. Leider hat der Krieg andere Gesetze. Er ist grausam und verheerend. Ich wünschte, er hätte endlich ein Ende. Wir erwarten unser erstes Kind, und ich würde es gerne in Frieden aufwachsen sehen.
    Gott schütze dich, liebste Aimée. Bete für mich und meine Soldaten wie für unseren Vater und sei gewiss, dass wir dich nach wie vor als eine der Unseren lieben.
    Dein Vetter Philippe
    Der Brief glitt Aimée langsam aus den Händen, während sie den Tränen freien Lauf ließ, ohne sie zu trocknen. Lison schloss sie stumm in die Arme. Sie brauchte nicht viele Worte, um ihre Anteilnahme auszudrücken.
    »Soll ich nach Alain schicken?«, fragte sie nur.
    »Nein!«
    Aimée schüttelte den Kopf. Ihre Gefühle für Alain waren heiter und frivol, sie hatten nichts mit der grenzenlosen Trauer zu tun, die sie in diesem Augenblick niederdrückte. Sie hatte zum zweiten Male einen Vater verloren.
    Die Wände der Kammer engten sie ein, und sie griff hastig nach einem aufwendig verzierten Tuch.
    »Wohin geht Ihr?«, rief Lison besorgt. »In die Kapelle? Soll ich Euch begleiten?«
    »Nein! Nein!« Aimée hob abwehrend die Hand. »Ich muss allein sein. Mach dir keine Sorgen.«
    So dankbar sie Lison für deren Trost war, sie musste aus eigener Kraft die Verzweiflung bekämpfen. Warum wurde sie von allen verlassen?
    Sie floh nicht in die Kapelle, sie suchte die Weite des Himmels, den Blick zu den Sternen und den immerwährenden Wind, der über das flämische Land strich.
    Sie hastete den Wehrgang hinauf, vorbei an den Wachen, die ihr befremdet nachsahen. An der Nordwestecke hielt sie im Schutz einer Schießscharte inne. Sie umklammerte eine der Zinnen so heftig, dass ihre Finger schmerzten.
    Mutlos und stumm starrte sie in den Nachthimmel. Die Sterne verschwammen ihr vor den Augen, während sie sich weit nach vorne lehnte.
    Auch Domenico Contarini hatte den Wehrgang und die Dunkelheit gesucht. Die Unruhe hatte ihn ins Freie getrieben. Er suchte zu ergründen, was Aimée dazu bewegt haben mochte, sich einem Mann zuzuwenden, der ihm so ähnlich sah, dass jeder stutzte, der ihnen beiden begegnete. Das konnte kein Zufall sein, fing er an sich einzureden. War es möglich, dass sie ihn in dem anderen sah? War sie noch nicht ganz für ihn verloren?
    Die Gefühle, die er seit seiner Reise nach Dijon verdrängt hatte, hatten ihn schon lange eingeholt. Er hatte es zutiefst bedauert, dass er bereits einer anderen Frau versprochen war. Er hatte es dennoch nicht gezeigt, konnte, durfte es nicht zeigen. Durfte nicht? Gegen ihre Anmut, ihren Reiz hatte er sich wehren können, aber ihre Tatkraft, ihr so gänzliches Anderssein als alle anderen Frauen, hatte sie begehrenswert gemacht und machte sie immer begehrenswerter, so dass seine Gedanken an sie ihn täglich mehr beherrschten. Nur zu gut erinnerte er sich jetzt wieder an den schmerzlichen Abschied von ihr. Wie gerne hätte er sie an diesem Tag in die Arme genommen.
    Aimée musste dagegen ankämpfen, im eigenen Leid zu versinken.
    Jean-Pauls Züge tauchten vor ihrem inneren Auge auf. Er war ihre

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