Die Stunde des Venezianers
Verträge einhalten und Aufträge erfüllen.«
»Auch ich habe eine Verpflichtung, Aimée«, erwiderte Alain ernst. »Ich liebe dich, und ich will diese Liebe vor Gott und den Menschen bekennen. Du gehörst zu mir. Oder hast du dich nur aus Langeweile hingegeben und nicht aus Liebe?«
»Du weißt, dass es nicht so ist«, erwiderte sie mit einem Anflug von Zurückweisung. Sie empfand es als erniedrigend, solche Wortgefechte zu führen. »Aber es ist zu früh, um von Heirat zu sprechen.«
»Zu früh? Warum zu früh? Es gibt Witwen, die nur wenige Wochen nach dem Tode ihres Mannes heiraten. Eine Frau braucht einen Mann, der sie beschützt, und eine schöne Frau wie du ganz besonders. Jeder bei Hofe erwartet, dass wir unsere Verlobung verkünden. Wir sollten es tun.«
»Lasst sie warten. Ich meine …«
Alain unterbrach ihren Widerspruch mit einem stürmischen Kuss, und Aimée verschob ihren Protest. Sie würden noch genügend Zeit haben, darüber zu reden. Diese Nacht gehörte dem Herzen und der Unvernunft.
35. Kapitel
B RÜGGE , 2. J ULI 1372
Graue Staubwolken stoben aus der Kleidung des Reiters, als er vor dem Haupteingang des Hauses Cornelis vom Pferd sprang.
Der Löwe der Republik von Venedig an seiner Satteldecke veranlasste den Pförtner augenblicklich dazu, die Nachricht von seiner Ankunft an Colard weiterzugeben, der sich in der großen Schreibstube aufhielt.
Vielleicht bringt der Kurier Neuigkeiten von der Ankunft der Flanderngaleeren, hoffte dieser. Jede Woche, die sie früher in Brügge einträfen, wäre ihm willkommen gewesen. Dass Aimée in Male war, erleichterte es ihm zwar, einige Geschäfte an ihr vorbeizuleiten, aber er musste auch an die Zukunft denken.
»Schickt ihn mir ins Kontor«, gab Colard Anweisung.
Er eilte gereizt durch die Schreibstube in das vertraute Kontor, das im vergangenen Jahr neu gekalkt worden war. Hinter dem breiten Arbeitstisch stand ein Stuhl mit hoher Lehne, dessen gepolsterte Front in aufwendiger Stickerei das Wappen des Hauses Cornelis trug. Ein Geschenk der Beginen für Aimée. Colard hatte sich noch immer nicht an den Anblick gewöhnt. Er ließ sich darin nieder.
»Ihr bringt Botschaften für Frau Cornelis?«, fragte er den eintretenden Reiter knapp. Dabei war er so auf dessen verschlossene Kuriertasche fixiert, dass er dem Mann selbst keinen weiteren Blick schenkte.
Der Reiter machte keine Anstalten, eben diese Kuriertasche zu öffnen.
»Schriftliche und mündliche, Herr de Fine. Und vor allen Dingen keine, die alle Ohren betreffen.«
Als der Reiter, den schon der Pförtner für einen Kurier gehalten hatte, den Hut abnahm, erkannte Colard ihn endlich.
»Messer Contarini! Ihr seid zurück? Willkommen in Brügge.« Während er fieberhaft überlegte, ob Aimée ihn in dieser Eile benachrichtigt haben konnte, redete er einfach, um Zeit zu gewinnen. »Wieso gebt Ihr Euch für einen venezianischen Kurier aus? Was treibt den Neffen des Dogen von Venedig dazu, in Verkleidung über die Landstraßen zu jagen? Man hört in Brügge, dass Ihr inzwischen zu den Noblen der Stadt zählt.«
»Es gibt keinen schnelleren Weg von Venedig nach Brügge als die Kurierrouten der Serenissima. Die offizielle Kuriertasche spricht für sich. Sie ermöglicht regelmäßige Pferdewechsel und bevorzugte Behandlung in den Herbergen. Zudem schenkt niemand einem beliebigen Kurier besondere Aufmerksamkeit, es gibt mittlerweile zu viele von ihnen. Ich habe Nachrichten für die Handelsherrin. Ist Frau Cornelis im Hause?«
»Sie ist in Male. Sie ist einer Einladung der Herzogin von Burgund gefolgt.«
Aus seinem Mund klang es, als habe Aimée ihre Arbeit in Brügge für höfische Vergnügungen im Stich gelassen. Contarini reagierte nicht darauf.
»Habt Ihr von unseren neuerlichen Schwierigkeiten gehört?«, fuhr Colard darauf eifrig fort und berichtete von dem Verlust des Handelszuges. »Aber Ihr braucht Euch dennoch keine Sorgen zu machen. Abraham ben Salomon wird auch zum nächsten Dreikönigsfest unsere Zinsen erhalten. Durch meine Heirat mit Gleitje Korte kann ich es ermöglichen und vielleicht auch einen Teil der geliehenen Summe zurückzahlen. Ich möchte Euch ein zuverlässiger Geschäftspartner sein, auf den Ihr Euch verlassen könnt. Meine Frau …«
Contarini unterbrach die Weitschweifigkeit.
»Ich bin nicht gekommen, Eure Geschäfte zu kontrollieren«, unterbrach er Colard. »Ich habe lediglich eine private Botschaft aus Andrieu für Frau Cornelis.«
»Wie geht es ihrem Onkel?
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