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Die Stunde des Venezianers

Titel: Die Stunde des Venezianers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cristen Marie
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heiligen Joris. Die Müdigkeit überwältigte Aimée, sobald Aufregung und Anspannung nachließen.
    »Aimée!« Die Herzogin entriss sie ihrem Dämmer. »Kommt. Der Herzog wünscht, dass wir mit ihm den Sieger auszeichnen. Da Ihr eine so flammende Rede auf den Brügger Bürgerstolz gehalten habt, sollt Ihr dem Schützen den Siegespreis überreichen.«
    Sie erhob sich gehorsam und schritt über die kostbaren Teppiche auf der Fronttreppe nach unten, wo bereits der Herzog, zusammen mit den Vorständen der Schützengilde und dem Bürgermeister von Brügge, auf sie wartete.
    Sie dankte anmutig und fühlte die Blicke der Menge auf sich. Sie hörte das Gemurmel und konnte sich vorstellen, was in den Köpfen der Männer vorging. Vermutlich erregte sie Aufsehen, was gegen Domenico Contarinis Rat verstieß. Sie stand jäh und unerwartet im Zentrum der Aufmerksamkeit von ganz Brügge.
    Bislang war sie nur die Witwe des Ruben Cornelis gewesen. Die Handelsherrin hinter Colard de Fine, der das Haus Cornelis in der Öffentlichkeit vertrat. Man hatte sie in der Kirche und auf dem Weg zum Beginenhof gesehen, in Colards Begleitung an der Waterhalle, aber man hatte sie nie als eine Patrizierin von Rang wahrgenommen. Als Brügger Bürgerin.
    Die Sonne brannte auf ihren Scheitel, als sie alle gemeinsam zu den Klängen der Fanfaren auf den Meisterschützen zugingen, der vor seinen Gildebrüdern stand. Er war ein kräftiger junger Bursche, dessen Gesicht vor Freude glühte. Philipp der Kühne überließ es seiner Gemahlin, ihn in heimatlichem Flämisch zu beglückwünschen.
    »Meinen Respekt dem besten Schützen Flanderns«, hörte sie den Herzog rufen, und die Menschen begannen zu jubeln.
    »Meinen Glückwunsch!«, lächelte Aimée dem Schützenkönig zu, als sie ihm den Lederbeutel mit dem Preisgeld überreichte. »Ihr habt unsere Stadt auf das vortrefflichste vertreten.«
    Aimée trat zurück, um dem Bürgermeister, den Gildemeistern und den anderen Gratulanten Platz zu machen. Ein unerwarteter Schlag traf sie zwischen den Schulterblättern.
    »Ein Pfeil! Man hat auf sie geschossen!«
    Auf wen? Auf mich?
    Aimée wollte es fragen, aber die Worte kamen nicht mehr über ihre Lippen.

46. Kapitel
    B RÜGGE , 7. J ULI 1372 ZUR SELBEN Z EIT
    Eingezwängt zwischen den Schaulustigen, die sich an den Absperrungen des Großen Marktes drängten, hatte es Colard aufgegeben, sich die Sicht zur Ehrentribüne zu erkämpfen.
    Es hatte ihn nicht gelockt, neben Gleitje und ihrem Vater zu sitzen. Auch aus fünfzig Schritt Entfernung konnte er Befriedigung auf ihren Zügen erkennen. Sie genoss es, über dem einfachen Volk zu thronen. Nur einmal, als die Herzogin und ihr Gefolge sich erhoben hatten, um zur Siegerehrung zu schreiten, hatten Neid und Missgunst ihre Miene verdunkelt.
    Obwohl er keine Wette auf den besten Schützen abgeschlossen hatte, wurde auch Colard von der Spannung ergriffen. Sankt Joris oder Sankt Sebastian? Welche Gilde trug in diesem Jahr den Siegespreis davon?
    Im allgemeinen Lärm war bei der Verleihung weder die Stimme des Bürgermeisters noch die des Herzogs klar zu verstehen. Die Menge war auf Bruchstücke und Vermutungen angewiesen. Colard behalf sich, indem er noch einmal zu seiner Frau sah. Ihr Vetter Klaas zählte zu den Schützen von Sankt Sebastian. Wenn sie den Sieg davontrugen, würde er es ihr vom Gesicht ablesen können. Er wusste, wie sehr sie nach jeder Art von Ehre und Ruhm für sich und die Ihren gierte. Sie strahlte.
    »Es ist Sankt Sebastian!«, beantwortete er deswegen auch bereitwillig die Frage eines Mannes, der einen Ellbogen in seine Rippen rammte. Gleitjes Strahlen hatte Bände gesprochen. Sie hatte zudem einen Blick zufriedenen Einverständnisses mit ihrem Vater gewechselt.
    Zugleich brandete freilich ein entsetzter Aufschrei von den Giebeln ringsum zurück. Unruhiges Raunen erfasste die Bürger um Colard. Die erwartungsfrohe Erregung kippte jäh in Entsetzen um. Wortfetzen, Rufe und ratlose Fragen wurden laut.
    »Was ist geschehen?«
    »Der Herzog!«
    »Welch ein Unglück!«
    Das Gedränge wurde erstickend. Colard hörte Frauen kreischen, Kinder weinen. Sein erster Impuls, sich auf der Stelle in Sicherheit zu bringen, scheiterte an der Mauer aus Menschen, die ihn umgab. Der kurze Augenblick des Zögerns brachte ihn in zusätzliche Schwierigkeiten. Er geriet in den Sog und wurde gegen die Absperrungen gespült. Er sah erst wieder klarer, als sich der Holzgriff einer quergelegten Lanze schmerzhaft in seine

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