Die Stunde des Venezianers
übte eine beruhigende Wirkung auf sie aus. Vielleicht war ja doch nicht alles so schlimm wie es ihr in der langen Nacht erschienen war.
Die zahllosen Margeriten, die zu Ehren der Herzogin in die Girlanden aus Buchsbaum und Efeuranken eingeflochten worden waren, ließen bereits die Köpfe hängen, aber das Meer der farbenprächtigen Fahnen, Standarten, Fenstertücher und Wimpel verfehlte nicht seine Wirkung auf das Auge. Stadt und Bürger zeigten sich im Festtagsgewand. Von allen Seiten des Platzes drängten die Schaulustigen gegen die Absperrungen, und niemand wich freiwillig einen einzigen Fußbreit von der Stelle.
Der Lärm der Menge, der Fanfarenklang und die Trommelwirbel brandeten einer Sturmflut gleich an die Gebäude, die den Marktplatz säumten: der Belfried mit der gewaltigen Tuchhalle, die Burg des Grafen von Flandern, die Kathedrale des Heiligen Blutes mit der kostbaren Reliquie, die Waterhalle, Symbol für Handelsmacht und Einfluss. Und dann war da noch die Baustelle des neuen, großen Rathauses, dessen Fassade mit den Fahnentürmen bereits Gestalt angenommen hatte.
Wie die Edelsteine einer Kette reihen sich die Gebäude, dachte Aimée. Das Herz Brügges aber sind seine Bürger, die Menschen dort unten auf dem Platz. Es erfüllte sie mit Stolz, in dieser Stadt zu leben.
Die Tage in Male drängten sich in ihre Gedanken. Sie würden ein Traum bleiben, und sobald Alain zurückkehrte, musste sie ihm sagen, dass er falsche Erwartungen hegte. Sie würde nie seine Frau werden und Brügge verlassen. Es musste eine andere Lösung geben.
Sie würde nie vergessen, dass sie in seinen Armen die Liebe entdeckt hatte, die Ruben ihr verweigert hatte. Dennoch gehörte sie hierher. Sie musste einen Freund in ihm gewinnen. Aus der Ekstase war sie längst wieder erwacht. Für ein gemeinsames Leben mit einem Mann erhoffte sie sich mehr.
Sie liebte Domenico Contarini, den Venezianer. Sie konnte es nicht länger verdrängen. Spätestens der Kuss der vergangenen Nacht verwehrte ihr eine weitere Selbsttäuschung. Aber der Brief, den ihr einer der Pagen in der Burg überreicht hatte, ließ seit heute auch keinen Raum mehr für naive Hoffnungen.
Ich bin gezwungen, Brügge unverzüglich zu verlassen. Sorgt Euch nicht, Abraham ben Salomon wird wachsam für Euch sein und alle Eure Anweisungen so ausführen, wie wir es besprochen haben. Achtet auf Euch und haltet Euch im Hintergrund. Gebt Euren Feinden keine Handhabe und übt Euch in Geduld. Gott schütze Euch.
Aimée zerrte an einem Spitzentuch. Sie musste weiter verzichten lernen, auch wenn verzichten schwerfiel. Irgend wann würde auch der Venezianer nur eine Erinnerung sein. So wie ihre Großmutter, ihre Eltern, ihr Kind, das nie das Licht der Welt erblickt hatte, Onkel Jean-Paul.
Sie entdeckte die groteske Haube Gleitjes auf der zweiten Ehrentribüne, wo der Bürgermeister und die wichtigsten Honoratioren der Stadt Platz genommen hatten. Ihr Vater thronte neben ihr und hörte ihr aufmerksam zu. Offensichtlich fand sie seinen Beifall, denn Anselm Korte nickte das eine ums andere Mal.
Der Herold des Grafen von Flandern kündigte tönend die nächste Runde des Wettschießens an. Aimée zwang sich, ihre Aufmerksamkeit auf die Männer zu lenken, die dort um den Siegespreis des Herzogs kämpften. Die bunten Kreise auf dem Strohgeflecht der Zielscheiben verschwammen, als sie die Lider zusammenkniff.
Die Schussentfernung über die ganze Länge des Platzes betrug weit über dreihundert Fuß, und es bedurfte eines scharfen Auges und einer ruhigen Hand, dort ins Schwarze zu treffen.
Für die Gilden ging es um mehr als nur den Sieg. Sie hatten den Ehrgeiz, die Leistungen der Bogenschützen von Gent entscheidend zu übertreffen. Dass der Herzog im vergangenen Jahr das Genter Wettschießen mit seiner Anwesenheit beehrt hatte, lag den Brügger Schützen im Magen. Es war eine Frage der Ehre, die rivalisierende Stadt heute in jeder Beziehung zu übertreffen.
Die Sonne hatte ihren Höchststand längst überschritten, als die Teilnehmer für die Endausscheidung feststanden. Unter allgemeinem Beifall nahmen sie Aufstellung, und der Herzog gab das Zeichen zum Beginn ihrer Austragung. Die Spannung war mit den Händen zu greifen. Der Lärm wich erregtem Gemurmel. Auch Aimée beugte sich gespannt vor.
Die Menschenmenge stöhnte auf, als der beste Schütze der Gilde von Sankt Sebastian das schwarze Zentrum auf der Strohscheibe verfehlte. In diesem Jahr ging der Siegespreis an die Gilde des
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